Regina Hoppe-Kresse
Von Limburg Str. 5
41352 Korschenbroich
Schriftliche Abschlussarbeit zur Psychodrama-Assistentin
am Psychotherapeutischen Institut Bergerhausen,
vorgelegt: 03.05.2000
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Entwicklungspsychologische Aspekte des Jugendalters
1.1. Situation des Jugendlichen
1.2. Identitätsbildung
1.2. Interaktionelle Bedingungen für gelingende Identitätsbildung
2. Humanistisches Psychodrama als Beitrag zur Identitätsbildung
2.1. Das Menschenbild im Humanistischen Psychodrama
2.2. Haltung des Psychodramaleiters
3. Rahmenbedingungen und Handlungselemente im Psychodrama mit Jugendlichen
3.1. Größe und Zusammensetzung der Gruppe
3.2. Co-Leitung
3.3. Handlungselemente (Doppeln/Rollentausch/Interview)
4. Vorgehensweisen in der psychodramatischen Arbeit mit Jugendlichen
4.1. - protagonistenzentriert/gruppengerichtet
- gruppenzentriert
4.2. Verlauf und Phasen der Gruppensitzungen
5. Psychodramatische Gruppenarbeitarbeit mit lernbehinderten Schülern
Beschreibung und Kommentierung einiger psychodramatischer Sequenzen
- Beispiel 1: Protagonistenspiel "Ärger mit den Eltern"
- Beispiel 2: Gemeinsame Spielszene im Märchenland
- Beispiel 3: Bearbeitung eines gruppeninternen Konflikts mittels
Rollentausch
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit dem Humanistischen
Psychodrama bei Jugendlichen. Ausgehend von Erfahrungen mit Psychodrama
Gruppen von Schülern der Förderschule Rheydt möchte
ich Chancen und Einsatzmöglichkeiten des Humanistischen Psychodramas
in der speziellen Entwicklungsphase des Jugendalters beschreiben,
Methoden, Rahmenbedingungen und Vorgehensweisen reflektieren sowie
spezifische Merkmale für das Humanistischen Psychodrama mit
Jugendlichen aufzeigen. Um Verhaltensweisen und Befindlichkeiten
der jungen Menschen besser zu verstehen, gehe ich zu Beginn auf
die entwicklungspsychologische Situation im Jugendalter ein und
beschreibe kurz die meinen weiteren Überlegungen zugrunde
liegenden Identitätskonzepte.
In die Ausführungen - insbesondere im zweiten praxisbezogenen
Teil - fließen die speziellen Erfahrungen mit den Schülergruppen
an der Förderschule ein. Diese Schulform beherbergt eine
sehr heterogene Schülerschaft: lernbehinderte, sozial-emotional
benachteiligte und sprachgestörte Kinder und Jugendliche
werden hier zusammen unterrichtet. Zum Schluss der Arbeit werden
beispielhaft einige Psychodrama - Sequenzen aus der Gruppenarbeit
mit diesen Schülern protokolliert und kommentiert.
Da sich in der Literatur des Humanistischen Psychodramas nur wenige
Ausführungen zum Arbeiten mit Kindern/Jugendlichen finden,
beziehe ich in meine Betrachtungen zu Rahmenbedingungen und Ausgestaltungsmöglichkeiten
auch Erfahrungen von Autoren mit ein, die dem klassischen/analytischen
Psychodrama zuzuordnen sind, wie Petzold und Widlöcher. Deren
Beschreibungen zu bestimmten Aspekten der Arbeit mit Jugendlichen
untersuche ich auf ihre Übertragbarkeit bzw. Abgrenzung zum
Humanistischen Psychodrama hin.
1. Entwicklungspsychologische Aspekte des Jugendalters
1.1 Situation des Jugendlichen
Der Begriff Jugend bezeichnet im Allgemeinen einen bestimmten
Zeitabschnitt in der menschlichen Entwicklung und zwar "generell
die Übergangszeit von Kindheit zum Erwachsenendasein, ein
langsames Loslösen von der sozialen Rolle des Kindes und
ein schrittweises Hineinwachsen in die Rolle des Erwachsenen."(Reimann
1975, S. 9) Eine genaue altersmäßige Abgrenzung dieses
Entwicklungsabschnittes ist nicht möglich, da der Übergang
zum Erwachsenensein in den Kulturen zu unterschiedlichen Zeiten
stattfindet und gerade in der modernen Industrie- und Informationsgesellschaft,
u.a. bedingt durch unterschiedliche Ausbildungszeiten individuell
verschieden ist.
Die Übergangsphase ist für den Jugendlichen geprägt
von starker Verunsicherung und Rollenkonflikten: Er hat die fest
umschriebene kindliche Rolle verlassen und noch keinen Zugang
zur Welt des Erwachsenen. In dieser unklaren Situation sieht er
sich vor eine Vielzahl von Problemen gestellt: sich selbst zu
finden, eine Ich-Identität zu entwickeln, sowie die Beziehungen
zu den Mitgliedern seiner Umwelt zu klären und sich selbst
sinnvoll in seine soziale Wirklichkeit einzuordnen. "Der
Mangel an fest umrissenen Aufgabenstellungen und die Vielzahl
oft widersprüchlicher Erwartungsnormen zwischen Kindheit
und Erwachsensein führen dazu, dass weder die Erwachsenen
wissen, was sie von den Jugendlichen erwarten dürfen, noch
der Jugendliche sich selbst versteht und anerkannt sieht."
(Iben 1970, S. 1o3) Das Gefühl des Unverstandenseins, die
emotionale Loslösung von den Eltern und damit einhergehende
Verunsicherung führt dazu, neue Sicherheit und Bestätigung
seiner selbst in der starken Identifikation mit der Gruppe Gleichaltriger
zu suchen. Die Peer- Group nimmt an Bedeutung zu, hier findet
der Jugendliche "eine Solidarität der gleichen Statusunsicherheit
und der gleichen Bedürfnisse und versucht mit ihnen (den
Gleichaltrigen) eine eigene Welt zu bauen." (ebd, S. 1o3)
Es ist zu beobachten, dass es in diesen Peer-Groups zu einer weitgehenden
gegenseitigen Angleichung und Konformität kommt. Die Altersgenossen
sind oftmals bereit, sich strengen Regeln - von Kleidungsnormen
bis hin zu Verhaltensmodi in der Beziehungsanbahnung - zu unterwerfen.
Dies führt zu hoher sozialer Kontrolle untereinander, die
eine offene, ehrliche Atmosphäre eher erschwert. Gruppenkohäsion
basierend auf Offenheit, gegenseitigem Vertrauen und der Bereitschaft
eigene Emotionen zuzulassen, passt nicht zum Verhaltensmuster
der Jugendlichen untereinander, wenn deren Erwartungsnormen durch
distanziertes, oberflächliches "cooles" Verhalten
definiert sind, wie es in vielen Peer-Groups der Fall ist. Je
mehr die Jugendlichen sich kennen und im normalen Alltag, z. B.
in Schule miteinander umgehen, umso schwieriger ist es für
sie, aus dem gewohnten Umgangsnormen der Gleichaltrigen auszusteigen,
aus Angst vor Bloßstellung und negativer Sanktionierung.
Dementsprechend behutsam und langfristig wird sich in einer solchen
Konstellation die Erwärmung für psychodramatisches Arbeiten
gestalten.
1.2. Identitätsbildung
Die spezifische von Unsicherheit charakterisierte Situation des
Jugendlichen ist nicht losgelöst vom Gesamtprozess der Identitätsfindung
zu betrachten. Das Jugendalter stellt zwar eine ganz besonders
intensive, herausgehobene Phase des Selbstfindungsprozesses dar,
ist jedoch eingebettet in die das ganze Leben des Menschen umfassende
Entwicklung zur eigenen Identität. Ich möchte deshalb
die meinen weiteren Überlegungen zugrunde liegenden Identitätskonzepte
kurz skizzieren:
Der heranwachsende Mensch bewegt sich von Beginn seines Lebens
an durch eine soziale Struktur. Die jeweils für eine gewisse
Zeit stabilen interpersonalen Beziehungen - wie zum Beispiel zur
Mutter - verändern sich, sobald der junge Mensch mit anderen
Personen und Gruppen verkehrt. An bestimmte Positionen in den
verschiedenen Gruppen sind unterschiedliche Rollenvorschriften
und damit Verhaltenserwartungen gebunden, so werden dem Individuum
jeweils neue Rollen zugewiesen und es wird immer wieder mit neuen
Erwartungen konfrontiert. (vgl. Fend 1974, S. 172)
Die Erwartungsnormen, auf die der junge Mensch in den unterschiedlichen
Gruppen trifft, können sehr unterschiedlich sein. Ist er
zum Beispiel Kind einer bürgerlichen Familie und gleichzeitig
Mitglied einer Jugendbande, so ist er mit extrem gegensätzlichen
Normen konfrontiert. Das erfordert ein hohes Maß an Auseinandersetzung
von ihm, ein sich Annähern an ein neues, stimmiges Selbstbild
durch Anpassung und Widerstand. Um wieder einen stabilen Zustand
zwischen den Erwartungen seiner Interaktionspartner und den Vorstellungen
vom eigenen Selbst herzustellen, muss sich sein Selbstbild ändern,
er muss eine neue soziale Identität entwickeln. "Die
Inkongruenz zwischen den Erwartungen und Verhaltensweisen der
anderen und der Vorstellung von sich selbst kann die motivierende
Kraft sein, das Selbstbild zu ändern." (ebd. S. 172).
"In der Sprache Meads: Der Educandus ist als ein Interaktionspartner zu betrachten, der in sich ein "Selbst" bildet, das der Inbegriff der zur inneren Struktur organisierten Interaktionserfahrung ist. Mead hatte das zunächst als das `Me´ bestimmt." (Mollenhauer 1974, S. 101) Dieses Me entsteht auf der Grundlage wechselseitiger Beziehungsdefinitionen und wird aufrechterhalten dadurch, dass es sich in allen einzelnen Interaktionen immer aufs Neue bewähren muss. Mit der Zeit bildet sich in der Interaktion des Individuums eine Regelmäßigkeit heraus, die allgemeine situationsunabhängige Erwartungen enthält. Das Individuum wird bestimmt als Mitglied einer sozialen Gruppe und zwar so, dass es sich selbst zu dieser Gruppe gehörig wahrnimmt und sich zu ihr als zu einem Teil seiner Selbst verhalten kann: das ist seine "soziale Identität".(vgl. ebd. S. 101) Zwei solcher sich schon sehr früh entwickelnden Zugehörigkeits-Koalitionen stellen sich in den Dimensionen Generation und Geschlecht dar. Zu beobachten ist, dass im Jugendalter die Definition der sozialen Identität stark geprägt ist von der Zugehörigkeit zum Geschlecht und zur Altersgruppe (Peer-Group).
Neben der sozialen Identität hat Mead als zweite Dimension
des Individuums das "I" eingeführt als den Inbegriff
der aus dem Organismus aufsteigenden Impulse, die nur dem Individuum
zugehörig seien, von Krappmann verstanden als eine Dimension,
in dem die Ereignisse im Leben eines Individuums zu einer persönlichen
Identität zusammengefasst werden. "Diese auch von Mitscherlich
in den Begriffen "soziales" und "persönliches
Ich" diskutierte Unterscheidung ist die Form, in der das
Individuum auf zwei unterschiedliche Klassen von sozialen Erwartungen
reagiert: zu sein wie jeder andere und zu sein wie kein anderer."
(Mollenhauer 1974, S. 104)
Hans-Werner Geßmann beschreibt im Zusammenhang mit der Spontaneitätstheorie
im Humanistischen Psychodrama, wie eine gelingendes Interaktionsverhalten
dann entsteht, wenn die zwei Aspekte des Selbst in Übereinstimmung
gebracht werden: "es (ein die Identität einer Person
begründendes und verbürgendes Konstrukt) äußert
sich als sinnvolles und zielorientiertes soziales Interaktionsverhalten
in Momenten entstehender Ganzheit von subjekt- und objekthaften
Selbstaspekten." (Geßmann 1996, S. 33)
1.3. Interaktionelle Bedingungen für gelingende Identitätsbildung
Gehen wir davon aus, dass für ein sinnvolles Interaktionsverhalten
des Individuums, welches ihm ein Leben in einer stabilen interpersonalen
Umwelt und Zufriedenheit in seinem Selbst ermöglicht, ein
Gleichgewicht zwischen sozialer und persönlicher Identität
Voraussetzung ist, so wird evident, dass im Jugendalter als besonders
intensive Phase des Selbstfindungsprozesses der Ausbildung einer
ausgeglichenen Identität besondere Bedeutung zukommt. "Die
Bildung der Identität als Balance zwischen ihrer sozialen
und personalen Dimension ist ja zugleich die Bildung eines Bedeutsamkeitshorizontes,
innerhalb dessen das Individuum im Rahmen der Gruppen, denen es
zugehört, Probleme und Inhalte gewichtet und damit konkrete
Lernperspektiven erwirbt." (Mollenhauer 1974, S. 105) Da
die Ausbildung balancierter Identität in einem sozialen Kontext
geschieht, ist das Gelingen einer stabilen Persönlichkeitsbildung
abhängig von Bedingungen, die in den Strukturen der erfahrenen
Interaktionen des jungen Menschen liegen.
Mollenhauer beschreibt in seinen Theorien zum Erziehungsprozess eine Reihe von Bedingungen, die sich günstig auswirken. Diese Auflistung von positiv wirkenden Faktoren für den Selbstfindungsprozess bietet für die Betrachtung der psychodramatischen Arbeit mit Jugendlichen eine interessante Grundlage, denn hier werden interaktionelle Vorraussetzungen aufgezeigt, die in psychodramatischer Gruppenarbeit reproduziert und die damit verbundenen Verhaltensweisen erlebt und erprobt werden können: "Eine balancierte Identität wird für das Individuum um so wahrscheinlicher, je deutlicher in der Interaktion
- situationsbezogene flexible Beziehungsdefinitionen möglich sind;
- Rollendistanz gewahrt werden kann,d.h. für Verhaltenserwartungen Interpretations- Spielräume offen bleiben;
- Ambiguitätstoleranz ausgedrückt wird, d.h. differierende Erwartungen und die Differenz zwischen Erwartungen und eigenen Bedürfnissen ertragen werden;
- Empathie realisiert wird, d.h. die Erwartungen und Beziehungsdefinitionen der Interaktionspartner wechselseitig antizipiert und zur Bestimmung des eigenen Verhaltens verwendet werden;
- Aushandeln von Identität (identity bargaining) möglich
ist, d.h. nicht an einer bestimmten Form von Selbst-Präsentation
unbedingt festgehalten wird, sondern situations- und partnerbezogene
Modifikation stattfinden kann." (Mollenhauer 1974, S. 106-107)
2. Humanistisches Psychodrama als Beitrag zur Identitätsbildung
Die von Mollenhauer skizzierten Strukturen sind in Idealform nicht
im Lebensfeld junger Menschen anzutreffen. Abhängig von Elternhaus,
Schule und anderen Bezugsgruppen sind sie mehr oder weniger ausgeprägt.
In psychodramatischer Gruppenarbeit werden Bedingungen geschaffen,
die den Teilnehmern Raum bieten für Erfahrungen dieser Qualität:
für subjektive, flexible Interpretationen von Beziehungen
und Situationen, für einen distanzierten, reflektierten Umgang
mit Verhaltens-erwartungen. Durch die Übernahme unterschiedlicher
Rollen im psychodramatischen Rollenspiel wird es möglich,
verfestige Rollenklischees zu durchbrechen, die Position des Gegenübers
besser zu verstehen, Verhaltensalternativen zu erproben und neue
Verhaltensweisen zu entdecken. Das Doppel im Psychodramaspiel
bietet in besonderer Weise die Chance, Empathie zu erfahren und
einzuüben.
Wie schon beschrieben treffen wir in Gruppen mit Jugendlichen
auf eine starke Identifikation mit Gleichaltrigen und dadurch
bedingt häufig auf eine Überbetonung der sozialen Identität
- zu sein wie jeder Andere hat einen großen Stellenwert.
"Unkonventionelles Verhalten" gegenüber der Peer-Group
erfordert für den jungen Menschen ein hohes Maß an
Abgrenzungsfähigkeit. Maik Müller bezeichnet diese Überakzentuierung
der sozialen Identität als Entfremdung: "Man verhält
sich nur noch gemäß den Erwartungen bestimmter Personen,
handelt nach seiner Rolle, welche man exakt ausfüllt, um
von den entsprechenden Interaktionspartnern bzw. Gruppenmitgliedern
(peer-group o.ä.) positive Sanktionen zu erhalten bzw. negative
zu vermeiden. Die Konsequenz hieraus ist Entfremdung." (Müller
1997, S. 6) Erschwert dieses Phänomen einerseits den Zugang
zu einer offenen, angstfreien Atmosphäre, wie sie Bedingung
für psychodramatische Arbeit ist, so kann jedoch gerade der
Einsatz psychodramatischer Handlungselemente einen Beitrag zur
Entwicklung von Identitätsbalance leisten: im Spiel wird
mittels der verschiedenen Elemente wie Rollentausch und Doppeln
die persönliche Identität gestärkt, sowie Verständnis
und Interesse für die Eigenartigkeit und Einzigartigkeit
des Anderen gefördert. Müller beschreibt in seinen Ausführungen
"Zum Beitrag des Psychodramas bei der Identitätsfindung
im Jugendalter" Möglichkeiten mittels psychodramatischer
Methoden Störungen der Identitätsbalance zu behandeln.
Er erläutert anhand verschiedener Beispiele die Veränderung
sowohl von Egozentrik als Überakzentuierung der persönlichen
Identität als auch von Entfremdung mittels Rollentausch,
Doppeln und Spiegeln. Der Raum zur Veränderung, um Identität
im Sinne einer Balance zwischen sozialer und persönlicher
Identität wiederherstellen zu können, "kann im
Psychodrama ohne weiteres und ohne Einschränkungen geschaffen
werden "(ebd. S. 7)
"Moreno hat nun als Psychodrama eine Reihe von Techniken
bezeichnet, mit denen unabhängig von jeder künstlerischen
Ambition versucht wird, verschleierte, abgewehrte Tendenzen des
Bewusstseins und besonders des Gefühlslebens durch improvisiertes
Theaterspiel zu entfalten. Tatsächlich erlaubt das Psychodramaspiel
Gefühle, Phantasien und Verhaltensweisen entstehen oder wiederentstehen
zu lassen. Interpretation und Verarbeitung im Spiel ermöglicht
es dann, die Persönlichkeit kennenzulernen, zu verändern
oder weiterzuentwickeln." ( Widlöcher 1974, S. 2) So
skizziert Widlöcher in der Einleitung seines Buches zum Psychodrama
bei Jugendlichen das klassische Psychodrama und dessen Wirkmöglichkeiten.
Was er hier als Techniken bezeichnet - Petzold spricht von Handlungstechniken
(action methods)- verstehen wir im Humanistischen Psychodrama
als konstituierende Elemente. Gefühle, Phantasien und Verhaltensweisen
führen im Sinne des HPD`s nicht wie bei Moreno durch Interpretation
und Verarbeitung durch den Leiter zu Veränderung und Weiterentwicklung.
Durch die Erfahrung, die der Teilnehmer im Psychodramaspiel macht,
ereignet sich im Hier und Jetzt die Veränderung, Weiterentwicklung
und es entstehen neue Sichtweisen.
Die humanistische Psychologie geht davon aus, dass der Mensch
als soziales Wesen nicht kompromisslos Triebe und persönliche
Entwicklung ausleben kann, sondern grundsätzlich den sozialen
Kontext mit beachten muss. Die Herausbildung der eigenen Identität
kann nicht losgelöst von der Gruppe erfolgen, sondern wird
immer eingebunden in den sozialen Kontext geschehen: "Das
Humanistische Psychodrama mit seinem therapeutischen Ziel der
Öffnung und Wandlung der Identitätsstrukturen ermöglicht
die Entfaltung der menschlichen Eigenschaften im psychosozialen
Bereich bestmöglich, weil sich das Selbst des Menschen nur
im Austausch und in der Auseinandersetzung mit anderen, in der
Erweiterung der sozialen Interdependenz, in der der Mensch Zeit
seines Lebens in einer Gemeinschaft, sei es seine Familie oder
eine andere soziale Gruppierung eingebettet ist, entfalten kann."
(Geßmann 1996, S. 32)
2.1. Das Menschenbild im Humanistischen Psychodrama
Selbstverwirklichung im sozialen Kontext ist das zentrale Ziel
des Humanistischen Psychodramas, es wird nicht etwas `gemacht´
mit dem Klienten, sondern Entwicklung wird ermöglicht. "Vertreter
des Humanistischen Psychodramas glauben, dass dem Menschen ein
natürliches Bedürfnis innewohnt, zu wachsen und sich
selbst zu verwirklichen. Im therapeutischen Gruppenprozess kann
auf dieses Bedürfnis zurückgegriffen werden. Es ermöglicht
dem Leiter und den Gruppenmitgliedern ein nicht wertendes, gelassenes
Vertrauen, dass der therapeutische Prozess fortschreitet und dass
der Klient, eingebunden in ein soziales Umfeld aus eigener Kraft
zu sich findet." (Geßmann 1995, S. 9). Diese Grundgedanken
zum HPD zeigen, welch hohes Maß an Eigenverantwortlichkeit
dem Menschen für sein Handeln zugestanden wird. Jeder Mensch,
somit auch der Jugendliche ist autonom und verantwortlich für
sein Leben, für das was er sagt und tut. Der Gruppenleiter
wird Voraussetzungen für offene Kommunikation in der Gruppe
schaffen und damit dem jungen Menschen die Möglichkeit zu
neuen Erfahrungen, zur Weiterentwicklung seiner Persönlichkeit
bieten und diesen Prozess begleiten. Dabei steht nicht die Behandlung
einzelner Störungen im Mittelpunkt, sondern der ganze Mensch
mit seiner individuellen Lebenserfahrung und Lebenssicht ist das
Ziel des Veränderungsprozesses. Die Verantwortlichkeit des
Handelns bliebt bei jedem Einzelnen selbst.
Das Humanistische Psychodrama wurde um 1980 von Hans-Werner Geßmann
begründet als Weiterentwicklung des klassischen Psychodramas
und in Abgrenzung zu diesem. Er fand im klassischen Psychodrama
Strukturen, die für ihn nicht akzeptabel waren, z.B. dass
im therapeutischen Prozess Gefühle künstlich provoziert
werden. Auch steht er dem Bestreben des klassischen Psychodramas,
Situationen und Gefühle aus der Vergangenheit exakt zu reproduzieren
ablehnend gegenüber. Geßmann vertritt demgegenüber
die humanistische Sichtweise, dass menschliches Tun und Fühlen
immer im Hier und Jetzt geschieht, geprägt durch eigene momentane
Befindlichkeit, durch gegenwärtige soziale Beziehungen und
Gefühle, die das Geschehen in jedem Moment beeinflussen.
Das Humanistische Psychodrama ordnet sich konsequent ein in die
Humanistische Psychologie, die in der 60er Jahren als dritte Kraft
neben Psychoanalyse und Behaviourismus entstand. Bugenthal zeichnete
1960 erstmalig die humanistisch geprägte Kennzeichnung des
Menschen auf:
- Der Mensch in seiner Eigenschaft als menschliches Wesen ist
mehr als die Summe seiner Bestandteile, die ihn zusammensetzen.
Er bildet im Person-Sein eine Ganzheit, die ihm Sinn gibt.
- Das menschliche Existieren vollzieht sich in menschlichen Zusammenhängen,
er ist nicht allein existenzfähig, seine Einzigartigkeit
als Mensch drückt sich darin aus, dass seine Existenz immer
an zwischenmenschliche Beziehungen gebunden ist.
- Der Mensch lebt bewusst, er wird fähig sich selbst zu definieren,
ein Selbstbewusstsein zu entwickeln. Unabhängig davon, wie
viel im menschlichen Bewusstsein jeweils zugänglich ist,
ist die jeweilige Bewusstheit ein Wesensmerkmal des Menschen.
Er ist in der Lage, selbst zu wählen und Entscheidungen zu
treffen. Denn dadurch, dass er bewusst lebt, kann er durch aktives
Entscheiden seine Lebenssituation verändern.
- Der Mensch lebt zielgerichtet, er antizipiert sein zukünftiges
Leben und lebt auf Ziele und Werte hin, die Grundlage seiner Identität
sind.(vgl. Quitmann 1996, S. 14)
In der Humanistischen Psychologie steht immer der Mensch mit seinen
Erfahrungen im Mittelpunkt, einen Anspruch auf Objektivität
gibt es nicht. Die Forschung richtet sich auf das menschliche
Sein als Ganzheit, und therapeutisches Handeln hat die Ausbildung
einer ganzheitlichen Identität zum Ziel.
2.2. Haltungen des Psychodramaleiters
Geprägt von diesem Menschenbild sind die Handlungsweisen
des Psychodramaleiters stets darauf ausgerichtet, den Gruppenteilnehmern
ein hohes Maß an eigenen Entscheidungskompetenzen zuzubilligen
sowie sich selbst als Ganzheit erfahren zu können, mit den
geliebten und den ungeliebten Persönlichkeitsanteilen und
mit seiner Sinnhaftigkeit. Dabei kann die psychodramatische Arbeit
dazu beitragen, ungeliebte Anteile aus einer anderen Perspektive
zu betrachten, sich mit ihnen zu versöhnen und zu einem positiven
Selbstbild zu gelangen. "Das Humanistische Psychodrama schätzt
die Natur des Menschen grundsätzlich positiv ein. Es strebt
immer nach einer verbessernden Umstrukturierung der Umwelt und
nach einem besseren Verstehen des Einzelnen." (Geßmann
1995, S. 1o)
Der Leiter initiiert und begleitet die Prozesse in der Psychodramagruppe.
Durch geeignete Methoden und Haltungen trägt er dafür
Sorge, eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen und damit
Gruppenkohäsion und Spielbereitschaft entstehen zu lassen.
Durch den speziellen Aufbau von Gruppensitzungen, an deren Beginn
immer die Erwärmungsphase steht, nimmt er Einfluss darauf,
Handlungswiderstände zu minimieren. Dabei muss er stets die
Eigenverantwortlichkeit und die Grenzen des einzelnen Gruppenmitgliedes
achten. "Die besondere Betonung des humanistischen und gruppentherapeutischen
Ansatzes machen spezifische Haltungen bei dem/der Therapeut/in
notwendig, welche auf die Arbeit in und mit der Gruppe wirken:
a) die besondere Achtung der Individualität in ihrer sozialen Verantwortlichkeit durch den/die Therapeuten/ stellen in der Regel ein vertrauensvolles Klima her.
b) die Beachtung einer organisch entfaltenden, am Gruppenprozess orientierten Begleitung durch den/die Therapeuten/in;
c) der Einsatz der verschiedenen psychodramatischen Methoden durch
den/die Therapeuten/in im Hinblick auf ein durch den Protagonisten
selbstbestimmtes Spiel in einer Psychodramagruppe." (Geßmann
1995, S. 35)
Die hier beschriebenen Haltungen des/der Therapeuten/in haben
in gleicher Weise Gültigkeit für den/die Leiter/in einer
psychodramatischen Gruppe, die sich nicht als therapeutische Gruppe
im engeren Sinne versteht, deren Ziel jedoch gleichermaßen
die Weiterentwicklung der Persönlichkeit und das Ermöglichen
von Veränderungsprozessen des ganzen Menschen ist. In diesem
Sinne arbeiten die Psychodrama-Gruppen von lernbehinderten Schülern
an der Förderschule Rheydt, die neben dem Unterricht als
Angebot für einige Jugendliche eingerichtet wurden und einmal
wöchentlich zusammenkommen. Meine Ausführungen zu Rahmenbedingungen,
Handlungs-elementen und Vorgehensweisen beziehen sich neben den
allgemeinen entwicklungspsychologischen Aspekten des Jugendalters
auf Erfahrungen mit diesen Gruppen.
Bezogen auf die spezifischen Haltungen des humanistischen Psychodramaleiters
ist festzustellen, dass die Achtung der Individualität für
die Jugendlichen, in besonderem Maße für die jungen
Menschen mit ihren Lern- oder emotionalen Behinderungen essentiell
wichtig sind: Jeder Einzelne muss hier in ganz besonderer Weise
mit seinen Eigenarten angesprochen und ernstgenommen werden. Nur
dadurch kann ein Klima der Öffnung entstehen. Dies ist ein
teilweise mühsamer und langdauernder Weg. Soziale Verantwortlichkeit
äußert sich in ganz kleinen Schritten, sei es nur darin,
zu lernen, einem anderen Gruppenmitglied Aufmerksamkeit zu schenken
und ihm zuzuhören.
Der Einsatz der verschiedenen psychodramatischen Methoden wird
sich in einer nicht therapeutischen Gruppe von Jugendlichen nicht
hauptsächlich auf Protagonistenspiele beziehen. Auch in gemeinsamen
Spielsequenzen, in Vignetten, in kurzen Szenen wird der Leiter
durch den Einsatz geeigneter Methoden wie Rollentausch oder Doppeln
den Gruppenprozess begleiten und sich organisch entfalten lassen.
3. Rahmenbedingungen und Handlungselemente im Psychodrama mit
Jugendlichen
Das Psychodrama mit Jugendlichen/Kindern unterscheidet sich nicht
grundsätzlich in seiner Zielsetzung - die bestmögliche
Entfaltung des menschlichen Selbst im sozialen Kontext der Gruppe
- vom Erwachsenenpsychodrama. In der Methodik und den Rahmenbedingungen
ist die besondere entwicklungspsychologische Situation des jungen
Menschen zu berücksichtigen. Ist der Jugendliche zunächst
in seiner Verunsicherung sehr mit sich selbst, mit der Entwicklung
der eigenen Identität beschäftigt, andererseits stark
auf Normen der Gleichaltrigen-Gruppe fixiert, so wirkt sich das
auf seine Fähigkeit, Probleme und Themen der Gruppenmitglieder
in den Blick zu nehmen, zunächst hinderlich aus. Es muss
stets in ganz besonderem Maße eine persönliche Betroffenheit
jedes einzelnen Gruppenteilnehmers geschaffen werden, um die Aufmerksamkeit
aller zu gewährleisten. Dazu ist eine klare Struktur der
Gruppensitzungen und eine aktive Begleitung der Gruppe durch den
Leiter notwendig. Er muss darauf achten, jedes Gruppenmitglied
zu jeder Zeit am Gruppengeschehen zu beteiligen. Die Methoden
in der Erwärmungsphase sollten deshalb einen hohen aktivierenden
Charakter haben. In der Arbeit mit Jugendlichen, die sich in der
Phase der Abgrenzung zum Kindsein befinden, dürfen die angebotenen
Methoden nicht "kindlich" erscheinen, da die Jugendlichen
dann nicht bereit sein werden, sich darauf einzulassen.
Unter Einbeziehung von Widlöchers Ausführungen zum Psychodrama
bei Jugendlichen möchte ich im Folgenden Rahmenbedingungen
für die psychodramatische Arbeit mit Jugendgruppen diskutieren.
Widlöcher beschreibt in einer sehr praktischen Art basierend
auf Erfahrungen mit verschiedenen Gruppen unterschiedlicher theoretischer
Ausrichtungen Anwendungsmöglichkeiten und speziell auf Jugendliche
und Kinder ausgerichtete Rahmenbedingungen für das Psychodrama,
ohne die theoretischen Hintergründe jeweils tiefgehend zu
behandeln. Spricht er in seinen Beschreibungen fast immer von
Kindern, so kann doch davon ausgegangen werden, dass er das Jugendalter
in seine Betrachtungen mit einbezieht, da er an gegebener Stelle
die untere Altersgrenze für Psychodrama auf ungefähr
zehn Jahre ansetzt und an anderer Stelle von pubertätsbedingten
Hemmungen spricht.
3.1. Größe und Zusammensetzung der Gruppe
"Es sollten nur zwei bis vier Kinder, ausnahmsweise auch
fünf, an einer Gruppe teilnehmen. Darüber hinaus wird
eine Gruppe unbeweglich und die Teilnahme jedes Einzelnen ungenügend.
Die Erfahrung hat übrigens gezeigt, dass jede dramatische
Handlung nur eine begrenzte Zahl von Darstellern zulässt,
die selten, abgesehen von den Statisten, fünf übersteigt."
(Widlöcher 1974, S. 35) Eine zahlenmäßige Begrenzung
der Teilnehmer ist für psychodramatische Arbeit mit Jugendlichen
auch meinen Erfahrungen entsprechend sinnvoll. Je größer
die Gruppe ist, um so schwieriger wird es, die Aufmerksamkeit
und Beteiligung aller Gruppenteilnehmer zu gewährleisten.
Jedoch erscheint mir die Gruppengröße hier sehr eng
gefasst. Widlöcher bezieht sich auf therapeutisches Psychodrama
und hat nicht die unterschiedlichen Möglichkeiten von Psychodrama
in einem mehr pädagogischen Kontext im Blick. Folgt man anderen
Beispielen in der Literatur, so ist es durchaus möglich,
auch mit größeren Gruppen zu arbeiten. Petzold berichtet
in seinen Ausführungen über "Psychodrama mit Schulkindern"
von der Arbeit mit ganzen Schulklassen, in denen gruppenzentrierte
Themen aufgegriffen wurden., die sich aus dem Schulalltag ergeben,
deshalb für die ganze Klasse eine gemeinsame Bedeutung haben
und für alle Teilnehmer relevant sind. Für protagonistenzentriertes
Arbeiten, das über allgemeine Klassenthemen hinausgeht und
Probleme einzelner Schüler aufgreifen will, hält er
kleinere Gruppen in einer Stärke von 8-12 Schülern für
sinnvoll. (vgl. Petzold 1993, S. 401-403) Bezogen auf die Gruppenarbeit
an der Förderschule hat sich eine Begrenzung der Gruppengröße
auf etwa sechs Jugendliche als sinnvoll erwiesen. Die lernbeeinträchtigten
oder emotional benachteiligten Schüler bedürfen in besonderem
Maße einer intensiven, ganz persönlichen Ansprache,
da sie in ihrer Aufnahmefähigkeit und Konzentration eingeschränkt
sind.
Hinsichtlich des Alters sollte die Gruppe homogen sein, da andererseits
die kulturellen und emotionalen Interessen zu weit auseinandergehen.
Wichtiger als das reale Alter ist dabei ein gemeinsamer emotionaler
und kultureller Reifegrad, wodurch die Herausbildung von Themen,
die für alle Teilnehmer eine vergleichbare Bedeutung haben,
erst möglich wird. Fehlt die alters- und reifemäßige
Homogenität wird es nicht gelingen, in der Gruppe gemeinsame
Themen zu entwickeln, an denen alle emotional beteiligt sind und
welche jedes Gruppenmitglied mit vollziehen kann. Der Jugendliche,
der sich in der Phase der Abgrenzung zur Kindheit einerseits und
zur Erwachsenenwelt andererseits befindet, ist kaum in der Lage,
sich auf Themen und Probleme von Teilnehmern einzulassen, die
sich noch oder schon in einem anderen Entwicklungsstadium befinden.
"Normalerweise trennt man in Jungen- und Mädchengruppen.
In Ausnahmefällen ist man manchmal von dieser Regel abgegangen,
im allgemeinen aber sind gemischte Gruppen gefährlich. Sie
können in der Pubertät die Hemmungen noch vergrößern."
(Widlöcher 1974, S. 35) In Zeiten, in denen Koedukation in
Schule und Freizeit der Normalfall ist, scheint diese Forderung
nach einer strikten Trennung von Jungen und Mädchen zunächst
unverständlich. Bei differenzierter Betrachtung der entwicklungspsychologisch
bedingten Situation der Jugendlichen ist die Überlegung,
geschlechtsgetrennte Gruppen zu bilden, durchaus berechtigt: Schon
früh definieren sich die Kinder mehr oder weniger ausgeprägt
über ihre Zugehörigkeit zum Geschlecht. Im Jugendalter
findet diese Zugehörigkeitsdefinition eine sehr starke Ausprägung.
Die Abgrenzung zum anderen Geschlecht und starke Bindung an gleichgeschlechtliche
Interaktionspartner geht einher mit wachsendem sexuellen Interesse
am andersgeschlechtlichen Gegenüber. Dadurch wird ein unbefangener
Umgang untereinander erschwert und blockiert im Extremfall die
Entstehung von Gruppenkohäsion, weil die Fremdartigkeit und
gleichzeitige Attraktivität der jeweils gegengeschlechtlichen
Gruppenmitglieder soviel Spannung erzeugt, dass offene, unbelastete
Kommunikation nicht entstehen kann.
Ist in einer Gruppe diese Spannung ein allgemeines Gruppenthema und betrifft alle Teilnehmer, so bietet die gemischtgeschlechtliche Gruppe die Möglichkeit, Psychodrama einzusetzen, um eben dieses Thema zu bearbeiten. Petzold berichtet von der Arbeit in einem Klassenverband mit 12 Jungen und 12 Mädchen, mit denen er über den Zeitraum eines halben Jahres lang einmal wöchentlich in einer Schulstunde Psychodrama durchführte. Ausgehend von den Spannungen zwischen Mädchen und Jungen setzte die Psychodrama-Arbeit bei diesen Störungen an und stellte sie ins Zentrum der Psychodrama-Sitzungen. Ziel und Ergebnis der halbjährigen Arbeit mit den Schülern war eine wesentliche Verbesserung der Gruppenkohärenz. (vgl. Petzold 1993, S. 4o8 -411)
Die Entscheidung, ob eine Trennung von Mädchen und Jungen
notwendig und sinnvoll ist, hängt davon ab, wie stark die
Hemmungen und die durch gemischtgeschlechtliche Zusammensetzung
bedingten Blockaden sind, die die Teilnehmer mit in die Gruppe
bringen, und ob eine Bearbeitung der von Spannungen zwischen Mädchen
und Jungen geprägten gruppendynamischen Situation gewünscht
ist und im Vordergrund stehen soll. Dies ist in einer bestehenden
Gruppe - wie eine Klasse im oben beschriebenen Beispiel - gegebenenfalls
sinnvoll. In einer Gruppenkonstellation mit Sonderschülern
brachte ein temperamentvolles Mädchen soviel Spannung und
Fixierung auf einen der Jungen mit in die Gruppe, dass dieses
Thema übermächtig im Vordergrund stand, andere Themen
der übrigen Gruppenmitglieder keine Beachtung finden konnten
und so die Beteiligung aller an der Arbeit in der Gruppe blockierte.
Hier wurde eine andere Zusammenstellung der Gruppe notwendig.
Zur Entstehung von Gruppenkohäsion sind weitere tiefergreifende
Gemeinsamkeiten, die über die Homogenität von Alter
und Geschlecht hinaus gehen förderlich. Allerdings ist es
problematisch, Kriterien zu finden, die eine solche Affinität
begründen und Gemeinsamkeiten im Interesse an bestimmten
Themen vorherzusagen. Ähnliche Familiensituationen könnten
z.B. ein Hinweis auf ähnliche Lebensthemen sein, allerdings
sagt die äußere Familiensituation nicht unbedingt etwas
über die emotionalen Konflikte des jungen Menschen aus. Eine
naheliegende Auswahlmöglichkeit besteht darin, Jugendliche
mit ähnlicher psychischer Befindlichkeit in einer Gruppe
zusammenzuschließen.(vgl. Widlöcher 1974, S. 36) Diese
Kriterien wurden für die Zusammenstellung einer Psychodramagruppe
an der Förderschule gewählt: Aus den verschiedenen Lerngruppen
der Schule wurden jeweils die unauffälligen, stillen Schüler
ausgewählt, die sonst durch die lauten, dominierenden Klassenkameraden
stets übertönt werden und selbst nur wenig Aufmerksamkeit
erhalten. Durch diese Konstellation entwickelte sich in der Gruppe
schnell ein vertrauensvoller Umgang miteinander, es gelang, den
einzelnen Teilnehmern ein hohes Maß an Aufmerksamkeit zukommen
zu lassen. Hier konnten sie mit ihren Befindlichkeiten ernst genommen
werden und ihre Themen in den Mittelpunkt stellen. Es entwickelte
sich eine Atmosphäre gegenseitiger Wertschätzung und
Annahme.
In Widlöchers Ausführungen wird die dringende Notwendigkeit
eines zweiten oder "Hilfstherapeuten" beschrieben, der
sich mit in ein von den Kindern inszeniertes Gruppenspiel begibt
und aus der Rolle des Mitspielers heraus agieren und Impulse geben
kann bzw. der die Rolle des Hilfs-Ich und des Doppelgängers
übernimmt. (vgl. Widlöcher 1974, S. 38-39) Seine Vorstellungen
von der Aufgabe des Doppels sind geprägt vom klassischen
Psychodrama, in dem das Doppel bemüht ist, die Absichten
des Protagonisten durch ein besonders akzentuiertes Spiel hervorzuheben,
was impliziert, dass es dessen Absichten errät. Widlöcher
selbst jedoch reflektiert schon, dass diese Methode nicht ganz
ungefährlich sei, "da der Doppelgänger riskiert,
suggestiv auf den Darsteller zu wirken. Man könne dem Doppelgänger
auch eine weniger direktive Funktion zuweisen, indem man ihn nur
eine die Intention der Person unterstützende Rolle spielen
läßt, während sie letztlich für die Rolle
verantwortlich bleibe. "Oder wie Anzieu es ausdrückt:
Der Doppelgänger kommt einer Ermutigung und Zustimmung gleich,
er erlaubt dem Kind, seine Rolle mit größerer Sicherheit
zu spielen....Der Doppelgänger kann sich auch bemühen,
mit dem Patienten einen Dialog zu führen, der sich normalerweise
nur im Innern abspielte." (ebd. S. 50)
Diese Beschreibung nähert sich dem Verständnis des Doppelns
im Humanistischen Psychodrama, in dem der Doppelprozess als kommunikativer
Begegnungsprozess zwischen Doppel und Protagonist verstanden wird.
Ein grundsätzlicher Unterschied bleibt darin bestehen, dass
Widlöcher dem Hilfs-Therapeuten die Aufgabe des Doppelgängers
zuschreibt, während im Humanistischen Psychodrama sowohl
die Aufgabe des Doppels als auch das Hilfs-Ich (auxiliary ego)
von den Gruppenteilnehmer übernommen wird. Insbesondere in
einer psychodramatisch ungeübten Gruppe ist jedoch auch hier
die Mitarbeit eines Co-Leiters günstig: Ist ein Leiter allein
für die Gruppe verantwortlich, so gestaltet sich Einsatz
und damit auch das Einführen der Teilnehmer ins Doppeln schwierig.
An den Stellen des Gruppenprozesses, an denen ein Doppel erforderlich
ist, ist der Leiter gezwungen aus seiner leitenden, begleitenden
Funktion hinaus in die Rolle des Doppels zu gehen, solange die
Gruppenteilnehmer noch nicht in der Lage sind, selbst zu doppeln.
Dabei stört der Wechsel des Leiters zwischen den beiden Positionen
den Spielfluss und kann auf die Gruppe verwirrend wirken.
3.3. Handlungselemente (Doppeln/ Rollentausch/ Interview)
Die Handlungselemente Doppeln, Rollentausch und Interview sind
von konstituierender Bedeutung für psychodramatisches Arbeiten.
Sie sind auch außerhalb von Spielhandlungen vielseitig einsetzbar.
Ihre Wirkweisen und Einsatzmöglichkeiten sollen hier im Blick
auf die Arbeit mit Jugendlichen beschrieben werden.
Doppeln
"Im Humanistischen Psychodrama sind "Doppel" Gruppenmitglieder,
...... die aus eigenem Antrieb die Bühne betreten, die Köperhaltung
des Protagonisten einnehmen, seiner Gestik und Mimik folgen, um
sich in die Befindlichkeit des Protagonisten einzufühlen,
dann mit dem Protagonisten gemeinsam Empfindungen, Befindlichkeiten,
Gedanken, Phantasien zu entwickeln, zu verbalisieren oder körpersprachlich
in der Weise auszudrücken, dass sie vom Protagonisten als
für seine Selbstreflexion auf dem Wege der Identitätsfindung
förderlich wahr- und angenommen werden können."(Geßmann
1997, S. 31) Doppeln ist als Begegnung zu verstehen, das Doppel
hat die Aufgabe, den Protagonisten einfühlend zu begleiten
und ihn in seiner Selbstreflexion zu verstärken und zu unterstützen.
Dabei hat das Doppel im Humanistischen Psychodrama " keineswegs
die Aufgabe, eine Identität mit dem Protagonisten anzustreben.
Die Gleichheit, das Verständnis zwischen dem Doppel und dem
Protagonisten resultiert nicht aus der Leistung des Doppels, sich
in einem anderen zu verlieren, sondern aus der gemeinsamen kommunikativen
Arbeit zwischen dem Doppel und dem Protagonisten. Der Protagonist
begegnet im Doppel nicht dem Phantasma seiner selbst, sondern
einem realen anderen, der ihn verstehen will." (Müngersdorff
1994, S. 121) Wichtig für den Jugendlichen ist, dass er sich
verstanden fühlt, Empathie erfährt und mit seinen Gefühlen
ernst genommen wird.In der Wirkung des Doppels unterscheidet Müngersdorff
drei verschiedene Funktionen:
- Das Doppel ist nicht dominierend, es folgt den Gestaltungen des Protagonisten und lässt die Spielbestimmung auf Seiten des Spielers.
- Das Doppel begleitet den Protagonisten und gibt dessen Fühlen, Denken, Empfinden und Bewegen Ausdruck. Auf die Gruppe bezogen ermöglicht es dem Protagonisten, die Offenheit und Begleitung der Gruppe zu erfahren.
- Das Doppel unterstützt den Protagonisten darin, seine inneren
Vorgänge nach außen zu gestalten. Es verhilft ihm zu
einer verständlichen Ausgestaltung seiner Empfindungen und
Gedanken und vermittelt im Sinne einer gemeinsamen Ausdruckswelt
zwischen Gruppe und Protagonist.(vgl. ebd. S. 118/119)
Hier wird deutlich, dass im Humanistischen Psychodrama dem Doppel
im sozialen Kontext auch eine wichtige Bedeutung als Vermittler
zwischen Protagonist und Gruppe zukommt.Überzeugend ist in
der psychodramatischen Arbeit mit Gruppen immer wieder zu erleben,
welche bedeutungsvolle Wirkung schon kurze Interventionen eines
Doppels auf die Befindlichkeit des Protagonisten und den Fortgang
des Spiels haben, sowie darauf, die Gruppe an den inneren Vorgängen
des Protagonisten zu beteiligen. Das bestätigt sich ebenso
deutlich in der Arbeit mit Jugendlichen, wobei in einer ungeübten
Gruppe - wie schon beschrieben - die Doppel-Interventionen zunächst
ausschließlich vom Leiter ausgehen. Im Hinblick auf die
Vermittlungsfunktion zwischen Gruppe und Protagonist kann dieses
Doppel zwar eine Beteiligung der Gruppe an den inneren Vorgängen
des Protagonisten bewirken, jedoch nicht die Offenheit und Begleitung
durch die Gruppe vermitteln.
Rollentausch
Ohne Rollentausch kann Psychodrama nicht stattfinden. Dieses Handlungselement
ist in vielfältigen Formen und verschiedenen Phasen an der
Konstituierung des psychodramatischen Gruppenarbeit beteiligt.
"Der Rollenwechsel stellt die allgemeinste Methode des Eingreifens
dar. ...... Der therapeutische Gewinn des Rollenwechsels liegt
in der Entdeckung, wie schwer es fallen kann, antagonistische
oder komplementäre Rollen zu spielen. Das Kind wird sich
seiner bevorzugten Rolle sowie der Gründe zur Ablehnung der
einen oder anderen Rolle bewusst. Ist es in einem bestimmten Rollenverhalten
gefangen, so kann es einsehen, dass die entgegengesetzte Rolle
ebenso spielbar ist. Die Methode ist besonders interessant für
die Lösung von Konflikten." (Widlöcher 1974, S.
48)
Indem ein Gruppenteilnehmer die Rolle mit einer anderen Person tauscht, verlässt er seinen Standort und versetzt sich in den Anderen. Er bleibt dabei zwar gleichzeitig er Selbst, gewinnt aber zusätzlich eine neue Perspektive und erlebt sich aus der Sicht des Anderen neu. Ein solcher Tausch, wie im obigen Zitat beschrieben mit der Rolle eines in der Gruppe real anwesenden Partners vollzogen eignet sich dazu, Konflikte innerhalb der Gruppe aufzugreifen und zu bearbeiten: Durch die Übernahme der Rolle des Gegenübers begibt sich der Jugendliche in dessen Gefühle und Gedanken, übernimmt seine Verhaltensweisen und erfährt diese Person in einer ganz neuen, intensiven Weise. Das führt in der Regel zu einem besseren Verständnis des Gegenübers. Gleichzeitig erhält er neue Sichtweisen seiner selbst, er kann sich und sein Verhalten, welches vom Partner gespielt wird, von außen betrachten, seine Verhaltensweisen aus der Distanz erleben und durch diese Erfahrung angestoßen gegebenenfalls verändern. So können verfestige Rollenklischees durchbrochen werden. Für den Jugendlichen im Prozess der Identitätsfindung ist diese Form des Rollentauschs hilfreich, Rollenalternativen zu erproben, die eigene Rolle und daran gebundene Verhaltenserwartungen zu relativieren und sich neu in den sozialen Kontext einzuordnen.
Der Rollentausch im Protagonistenspiel oder in kurzen Spielsequenzen
hat eine andere Qualität: Er wird mit nicht anwesenden Personen
vollzogen, die Mitspieler übernehmen für den Protagonisten
die Hilfs-Ich Rollen, die er für sein Spiel als Interaktionspartner
benötigt. Zunächst begibt sich der Protagonist in die
Rolle der für ihn in der zu spielenden Situation bedeutenden
Person (z.B. Lehrer, Freund, Mutter, Vater...), um das Gruppenmitglied,
welches die Rolle dieses Hilfs-Ichs übernehmen soll, in die
Gestaltung der Rolle einzuweisen. Hierbei passiert auf Seiten
des Protagonisten zweierlei: Er erlebt die Person, die er vorstellt,
aus einer ganz neuen Perspektive, entwickelt größere
Nähe oder auch innere Distanz zu ihr, indem er sich ganz
auf sie einlässt und in "ihre Haut" schlüpft.
Nachdem er wieder aus dieser Rolle zurückgetreten ist und
der Mitspieler zum Hilfs-Ich geworden ist, begegnet der Protagonist
dieser Person so, wie er sie erschaffen hat. Dadurch kann sich
eine neue Erfahrung und Interpretation der Beziehung ergeben.
Das Gruppenmitglied, welches die Hilfs-Ich Rolle übernimmt,
erweitert sein Rollenrepertoire, indem es sich in eine fremde
Person einfühlt, dessen Gefühle, Verhaltensweisen und
Gedanken nachempfindet und zum Ausdruck bringt. Hier wird Einfühlungsvermögen
und Rollenflexibilität trainiert. Gerade für Jugendliche,
deren "persönliches Ich" überbetont ist, bietet
die Übernahme einer fremden Rolle ein Übungsfeld, Empathie
zu entwickeln und aus der Ich-Befangenheit auszusteigen. "Nach
Moreno gelingt es Beziehungsgestörten am leichtesten im Psychodrama
ihre Rolle mit einem Partner zu tauschen.....So betrachtet erweist
sich der Rollentausch als "die Methode" um Menschen
aus einer egozentrischen , ich-verhafteten Haltung heraus zu holen
und somit Identitätsfindung im Sinne der Identitätsbalance
zwischen sozialer und persönlicher Identität zu fördern."
(Müller 1997, S. 10-11)
Als Alternative zum Protagonistenspiel werden in Kinder- und Jugendgruppen
gemeinsam entwickelte Spielszenen eingesetzt, in denen jeder Teilnehmer
eine von ihm selbst gewählte Rolle übernimmt, denn bei
dieser Form ist die aktive Einbindung jedes Gruppenmitgliedes
ins Spiel gewährleistet. Sehr prägnante, ausgeprägte
Identifikationsmöglichkeiten bieten hierbei Märchenfiguren.
Sie können verdeckte Kräfte freilegen, die Erlaubnis
geben anhand von Vorbildern Ungewohntes auszuprobieren. Im Rollentausch
mit der frei gewählten Figur wird es möglich, neue Rollenerfahrungen
zu machen, eigene Ressourcen oder auch Einschränkungen aufzuspüren
und das Rollenrepertoire in einer von der Phantasie geschaffenen
Welt zu erweitern.
In der Erwärmungsphase, gegebenenfalls auch in der Spielphase
kann eine weitere Form des Rollentauschs eingesetzt werden: Der
Tausch mit einer Sache (oder auch einem Tier). Indem sich die
Gruppenmitglieder mit dem gewählten Ding - sei es z.B. ein
Schlüssel, ein Stuhl oder jeder erdenkliche Gegenstand- identifizieren,
ereignet sich Bewusstwerden eigener, vielleicht nicht zugelassener
Anteile, eigener Bedürfnisse und Befindlichkeiten, die auf
diesen Gegenstand projiziert sind. Der Rollentausch konfrontiert
mit Sehnsüchten, Schattenseiten oder auch geliebten Anteilen
seiner Selbst. In der Erwärmungsphase eignet sich diese Form
von Rollentausch zum Aufspüren vorhandener Themen in der
Gruppe.
Meine Erfahrungen entsprechend ist für die Jugendlichen der
Rollentausch in seinen vielfältigen Formen ein wirkungsvolle,
gut zu erlernende Methode. Sie können sich in der Regel ohne
große Widerstände auf den Rollentausch einlassen. Unterstützt
durch das einführende Interview durch den Leiter gelingt
es, den Tausch mit einer anderen Person, Figur oder Sache nachzuvollziehen.
Interview
Das Interview ist ein strukturierendes, den Prozess der psychodramatischen
Arbeit unterstützendes und weiterführendes Element,
und als solches eine wichtige Interventionstechnik in den unterschiedlichen
Phasen des Psychodramas. Seine Funktion besteht darin, mehr Klarheit
zu schaffen, neue Impulse zu setzen oder Themen aufzudecken. Der
Leiter führt durch gezielte Interviewfragen das Gruppenmitglied
näher an seine Gefühle heran, verhilft dazu, innere
Vorgänge des einzelnen Teilnehmers für die Gruppe verfügbar
zu machen. Im Sinne des Humanistischen Psychodramas ist die Form
des Interviews nicht direktiv, manipulierend, sondern stets darauf
gerichtet, dem Klienten zum Erkennen und zum Ausdruck seiner eigenen
Befindlichkeiten und Wünsche zu verhelfen, durch viele einzelne
Informationen eine sich ordnende Gestalt entstehen zu lassen.
In der Erwärmungsphase unterstützt der Leiter durch
einfühlendes Nachfragen, die Ergebnisse von Kleingruppenarbeit
oder Produkte kreativer Arbeit vorzustellen und der Gruppe zugänglich
zu machen. Zu intensiveren Beteiligung der Gruppen-mitglieder
am Prozess können die Teilnehmer aufgefordert werden, sich
gegenseitig zu interviewen. Dadurch entsteht eine stärkere
Vernetzung der Gruppe, die Aufmerksamkeit und Involviertheit aller
Gruppenmitglieder wird erhöht. Dies kann besonders dann sinnvoll
sein, wenn Jugendliche nicht genügend Selbstdisziplin und
Geduld aufbringen, sich über einen längeren Zeitraum
zuhörend zu konzentrieren, ohne selbst aktiv in den Prozess
mit einbezogen zu sein.
Zur Einleitung des Rollentausches kommt dem Interview eine wichtige
Funktion zu: Mittels geeigneter Fragen führt der Leiter den
Teilnehmer in die jeweilige Rolle ein und verhilft ihm, sich in
die Gefühle, Verhaltensweisen und Gedanken der dargestellten
Person einzufühlen. Durch die Fragen, die er dem Protagonisten
beim Vorstellen der Hilfs-Ich Rolle stellt, erhält der Gruppenteilnehmer,
der das Hilfs-Ich spielen soll, notwendige Informationen. Eine
zentrale Funktion im Psychodramas hat das Szenen-Erstinterview
zur Einleitung eines Protagonistenspiels. Wird ihm im klassischen
Psychodramas im Wesentlichen die Aufgabe zugeschrieben, Informationen
zur wirklichkeitsgetreuen Szenen-Ausstattung zu erheben, sowie
eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Protagonist und Leiter
herzustellen und in die Handlungsphase überzuleiten, so versteht
Geßmann für das Humanistische Psychodrama das Erstinterview
nicht nur als ein Befragen und Zuhören des Therapeuten, sondern
schon als die aktive Konstitution einer Situation, in der zwischen
Therapeut und Protagonist unter Bezugnahme auf die Gruppe ein
neuer Sinnhorizont aufgebaut wird. (vgl. Geßmann 1997, S.
21) Wichtig ist hier wieder die Gruppenbezogenheit, alle Gruppenteilnehmer
sollen mit in das Spiel einbezogen werden. Das Ziel des Therapeuten
im Szenen-Erstinterview "ist die Aufdeckung des Themas und
seiner Ausdrucksgestalt. Er sucht nicht die einzelnen Szenen-
informationen, sondern er versucht über die Menge an einzelnen
Informationen eine sich ordnende Gestalt, ein Bild zu erkennen,
in dem in der Szene das in der Gruppe ausgearbeitete Thema ausgelegt
und damit sinnhaft erfahrbar wird." (ebd. S. 21)
Im weiteren Verlauf des Protagonistenspiels oder auch während
einer von der Gruppe gemeinsam gestalteten Szene oder einer Vignette
begleitet der Leiter fortwährend den Prozess. Mittels gezielter
Interviewfragen kann er den Fortgang des Spieles fördern
und die Mitspieler unterstützen. Im abschließenden
Sharing sind geeignete Fragen und Anstöße des Leiters
von Bedeutung, um den Austausch von Erfahrungen während der
Spielphase sowie die Mitteilung gegenseitiger Anteilnahme anzustoßen.
4. Vorgehensweisen in der psychodramatischen Arbeit mit Jugendlichen
Die psychodramatische Arbeit mit Gruppen Jugendlicher erfordert
für die Wahl der Ausgestaltung besondere Berücksichtigung
der spezifischen Situation und Verhaltensmerkmale des Jugendalters:
Um die Konzentration, die innere und äußere Beteiligung
aufrecht zu erhalten, benötigen viele Jugendliche in starkem
Maße direkte, persönliche Ansprache. Die Fähigkeit,
sich auf die Befindlichkeit des Anderen einzustellen ist oft wenig
ausgebildet. Dieses Phänomen ist zu verstehen als Ausdruck
des intensiven Befasstseins mit der Entwicklung eigener Identität
und Einordnung in die soziale Gruppe. Gedanken und Gefühle
sind phasenweise fast ausschließlich auf die eigene Rolle
und die Wirkung auf die Anderen ausgerichtet. Dabei bewirkt die
Tatsache, dass sich die Teilnehmer untereinander kennen und im
Alltag miteinander leben - wie bei schulinternen Gruppen - eine
zusätzliche Blockade: Es fällt schwerer, Gruppennormen
zu durchbrechen, Verhalten zu zeigen, das normalerweise im sozialen
Umfeld und der Peer-Group nicht üblich oder in der Gleichaltrigen-Gruppe
negativ sanktioniert ist. Deshalb ist eine besonders langsame,
behutsame Erwärmung notwendig, in der Vertrauen aufgebaut
und Angst vor Blamage abgebaut werden kann. Um eine intensive
Beteiligung aller Teilnehmer zu erreichen, bieten sich neben dem
Protagonisten-Spiel z. B. gruppenzentrierte Spiele an, in denen
die Gruppenmitglieder gemeinsam eine Szene entwickeln, oder mehrere
kurze Szenen, deren Reihenfolge durch jeweilige Protagonistenwahl
bestimmt wird.
Zunächst möchte ich auf die Ausführungen Petzolds
zu unterschiedlichen Formen in der Arbeit mit Schülern eingehen.
Er unterscheidet drei mögliche Vorgehensweisen in der Gruppenarbeit:
personenzentriert, gruppengerichtet und gruppenzentriert. Bezogen
auf seine Erfahrungen mit Psychodrama-Projekten an 2 Schulen,
beschreibt er, dass personen- oder protagonistenzentriertes Psychodrama
in der Klasse so gut wie nicht einsetzbar waren, dass jedoch in
kleinen Gruppen, die sich außerhalb der Schule zusammenfanden,
auch schwierigere Probleme von einzelnen Teilnehmern protagonistenzentriert
angegangen werden konnten. (vgl. Petzold 1993, S. 396)
In der Terminologie des klassischen Psychodramas bedeutet personenzentriertes
Vorgehen, dass der Therapeut mit dem Protagonisten ein Problem
bearbeitet, währenddessen die Gruppe zurücktritt und
aus dem Bewußtsein des Protagonisten verschwindet. "Im
protagonistenzentrierten Psychodrama werden immer wieder Techniken
eingesetzt, die auf die Behandlung des Patienten als Individuum
ausgerichtet sind, so dass berechtigterweise von einer `Einzeltherapie
in der Gruppe´ gesprochen werden kann." (Petzold 1993,
S. 73/74) Diese Form von `Individualtherapie in der Gruppe´
kommt im Humanistischen Psychodrama nicht vor. "Die grundlegende
Absicht (im Humanistischen Psychodrama) ist es, innerhalb des
Gruppengeschehens die selbständige Entwicklung der Gruppenteilnehmer
zu ermöglichen und zu fördern. Alle psychodramatischen
Methoden sind dieser Zielsetzung untergeordnet. Sie beziehen sich
auf den Gruppenteilnehmer, die Gruppe als Ganzes und zentrieren
sich auf den Protagonisten als den Repräsentanten der Gruppe."
(Geßmann 1995, S. 9) Der Protagonist bearbeitet immer stellvertretend
für die Gruppe ein Thema, so dass die Gruppenmitglieder mit
einbezogen und niemals bloße Zuschauer sind. Durch die Übernahme
der Hilfs-Ich Rollen sind sie auch als Mitspieler beteiligt. Die
von Petzold angeführte Form des personenzentrierten Vorgehens
hat deshalb für die Betrachtungen im Sinne des Humanistischen
Psychodramas keine Relevanz.
Protagonistenzentriert / gruppengerichtet
Was Petzold in seiner Unterteilung für die Arbeit mit Schulkindern
als gruppengerichtete Vorgehensweise bezeichnet, kommt dem Protagonistenspiel
im Humanistischen Psychodrama nahe: Er beschreibt, dass in jeder
Gruppe für den Einzelnen Situationen entstehen können,
die alle Gruppenmitglieder betreffen, Situationen aus dem Privatbereich
einzelner Gruppenmitglieder, die für andere Teilnehmer belangvoll
sein können, weil sie sich in einer ähnlichen Lage befinden,
(z.B. Vergessen von Aufgaben, Störungen durch Geschwister,
Kontrolle der Eltern...) Je homogener die Gruppe sei, desto größer
seien auch die Berührungspunkte in der Problematik. "Werden
deshalb die Konflikte eines Protagonisten durchgespielt, so ergeben
sich aufgrund der gruppenspezifischen Problematik für die
anderen Teilnehmer zahlreiche Identifikationsmöglichkeiten,
durch die sie in den Prozess miteinbezogen werden. Das Psychodrama
betrifft die ganze Gruppe, es behandelt gleichsam paradigmisch
ein Thema, das für die meisten Gruppenmitglieder relevant
ist." (Petzold 1993, S. 396) Beim gruppengerichteten Psychodrama
"geschieht die diagnostische Arbeit in kleinen Spielszenen
und wird wesentlich durch den Direktor des Psychodramas und zu
einem Teil durch das Feedback der Gruppe, d.h. der Klasse geleistet."
( Petzold 1993, S. 398)
Petzold misst also auch in dieser Form des Psychodramas die Hauptverantwortung
für die Themenfindung dem Leiter zu, während im Humanistischen
Psychodrama das Thema sich aus der Gruppe heraus bildet: Die Erwärmungsphase
zu Beginn der Gruppensitzung soll durch geeignete Methoden jedem
Teilnehmer dazu verhelfen, sein Thema zu finden und in den Gruppenprozess
einzubringen. Durch die Verknüpfung der Themen und Befindlichkeiten
der Teilnehmer untereinander bildet sich eine gemeinsame Ausdruckslage
der Gruppe, und die Gruppe konzentriert sich zunehmend auf ein
gemeinsames Arbeitsthema. Durch die soziometrische Wahl, die den
Übergang zwischen Erwärmungs- und Spielphase bildet,
werden Übereinstimmungen und Verbindungen der Gruppenmitglieder
untereinander sichtbar gemacht, ein Teilnehmer wird zum Protagonisten
gewählt, der stellvertretend für die Gruppe das gemeinsame
Thema bearbeitet; gleichzeitig verpflichtet die Gruppe sich, das
Spiel durch ihre Beteiligung mit zu bearbeiten. "Die soziometrische
Wahl suspendiert die Gruppenmitglieder nicht von der gemeinsamen
Aktivität, obwohl sie für einzelne entlastend wirken
kann. Die Gruppe verändert das Feld der Aufmerksamkeit entsprechend
der thematischen und soziometrischen Verwicklungen, die in der
Erwärmung aufgetreten sind. Für die soziometrische Wahl
ist so eher die verbindende als die trennende Wirkung typisch
....... Mit der Wahl ist aber zugleich ein Zurücktreten der
Gruppenteilnehmer verbunden. Im Sinne eines therapeutischen Vertrages
wird die Rollenverteilung vereinbart. Die Gruppenteilnehmer treten
in ihrer Individualität zurück, um sich am Spiel des
Protagonisten zu beteiligen. Sie versprechen ihm, indem sie ihn
wählen zugleich, sich an seinem Spiel zu beteiligen."
(Müngersdorff 1994, S. 76)
Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen beschreibt Müngersdorff,
dass auch Moreno mit seiner Vorstellung vom geborenen Protagonisten
die Möglichkeit einer solchen gruppenverbindenden Einleitung
des Protagonistenspiels kennt und nutzt, die sich im klassischen
Psychodrama allerdings eher zufällig und spontan ergibt:
"Der Protagonist entwickelt sich spontan, jemand steht auf
und spielt, die Gruppe gibt Raum, der Protagonist spielt auch
ihr Thema. Hier ist kein Übergangsritual nötig. Gruppe
und Protagonist sind verbunden. Indem der Protagonist von sich
handelt, handelt die Gruppe von sich. Diese Vorstellung einer
idealen Situation ist auch Ausgangspunkt für das Konzept
der soziometrischen Wahl im Humanistischen Psychodrama. Allein
weil es so wenig ideale Situationen gibt, soll die Wahl des Protagonisten
durch die Gruppe einen Zustand ermöglichen, die dem Ideal
so nahe wie möglich kommt." (Müngersdorff 1994
S. 77) So ist die soziometrische Wahl auch als ein Konstrukt zu
verstehen, welches in Situationen, in denen sich nicht idealtypisch
ein Gruppenthema herausbildet, an denen alle Teilnehmer gleichermaßen
intensiv beteiligt sind, bewirkt, dass sich die Gruppenmitglieder
dennoch auf ein gemeinsames Thema einigen und sich im Sinne eines
therapeutischen Vertrages verpflichten, in ihrer Individualität
zurückzutreten und sich am Spiel des Protagonisten zu beteiligen.
Das Gelingen des Protagonistenspiels setzt dann voraus, dass alle
Teilnehmer bereit sind, sich an diesen "Vertrag" zu
halten und am gemeinsam gewählten Gruppenthema mitzuarbeiten,
auch wenn sich Einzelne nicht mit voller emotionaler Beteiligung
darin wiederfinden.Diese Fähigkeit, sich auf die Problematik
eines Anderen einzustellen, damit zeitweise das Befasstseins mit
der eigenen Person zugunsten des Gruppengeschehens zurück
zu nehmen, kann in Gruppen von Jugendlichen nicht a priori vorausgesetzt
werden. Ausführliche Protagonistenspiele sind deshalb nur
dann einzusetzen, wenn die Betroffenheit aller Gruppenteilnehmer
in Annäherung an die ideale Situation sehr hoch ist, oder
wenn in der Gruppe die Bereitschaft, sich auf die Befindlichkeit
der Anderen und der Gesamtgruppe einzustellen, bereits ausgebildet
ist.
Gruppenzentriert
Der Unterteilung der verschiedenen Vorgehensweisen Petzolds folgend ist "das gruppenzentrierte Psychodrama mit der Situation der Gruppe im hic und nunc befasst. Die Interaktion zwischen den einzelnen Gruppenmitgliedern und das Verhalten der Teilnehmer in der Gruppe wird Gegenstand der Analyse und Bearbeitung." (Petzold 1993, S. 24) Bezogen auf die Arbeit mit Schulklassen nennt er Konfliktsituationen, wie z. B. Rivalitäten zwischen Jungen und Mädchen, Streitigkeiten um bestimmte Aufgaben, Spannungen zwischen einzelnen Untergruppen, die zum Gegenstand eines gruppenzentrierten Psychodramas werden können. In dieser Form des gruppen-zentrierten Psychodramas wird die Gruppe selbst zum Thema, gruppendynamische Vorgänge rücken in den Vordergrund und werden mittels psychodramatischer Mittel bearbeitet. In Situationen, in denen Spannungen in der Gruppe vorhanden sind, welche die Aufmerksamkeit der Teilnehmer beanspruchen und somit die Konzentration auf andere Themen blockieren, ist es notwendig, diese Störungen zum Thema zu machen und zu bearbeiten. Anderenfalls entsteht keine Bereitschaft in der Gruppe, offen miteinander umzugehen und Vertrauen aufzubauen. Die Behandlung der Gruppenstörung wird zur Voraussetzung für eine Verbesserung der Gruppenkohäsion.
Neben dieses auf gruppeninterne Problematik ausgerichteten Psychodramas
möchte ich als gruppenzentriert all diejenigen Formen verstehen,
die allen Teilnehmern in der Aktionsphase einer psychodramatischen
Sitzung eine gleichermaßen aktive Beteiligung am Spielgeschehnen
ermöglichen. Die Thematik und die Art der Methoden variiert
je nach Alter und Zusammensetzung der Gruppenmitglieder. Anstelle
eines Protagonisten-Spiels kann z. B. eine gemeinsame Szene entwickelt
werden: Im Anschluss an die Erwärmungsphase wird in der Gruppe
zusammen eine Situation ausgewählt, aus der heraus mit allen
Teilnehmern ein gemeinsames Spiel entsteht. Jedes Gruppenmitglied
übernimmt darin seine individuelle Rolle, die es selber auswählt.
Das Spiel entwickelt sich unter Beteiligung aller Teilnehmer,
in dem jeder aus seiner Rolle agierend, seine Themen und Wünsche
einbringen kann. So können die Spielenden gleichzeitig ihre
unterschiedlichen Befindlichkeiten zum Ausdruck bringen und mit
ihren jeweiligen Rollen experimentieren. Der Leiter achtet darauf,
dass die Individualität jedes Einzelnen in seiner Rolle Raum
finden kann und sich das Spiel am Gruppenprozess orientiert entfalten
kann. Damit der Rollentausch gelingt, interviewt er zu Beginn
des Spiels jeden Teilnehmer in seiner Rolle, verhilft ihm sich
einzufühlen und die Identifikation mit der Rolle zu vertiefen.
Das im Anschluss an die Spielphase stattfindende Sharing gibt
den Gruppenmitgliedern die Möglichkeit, ihre Erfahrungen
mit den übernommenen Rollen zu erzählen, Beobachtungen
untereinander auszutauschen und gegenseitiges Verständnis
zum Ausdruck zu bringen.
Abweichend von einem frei erfundenen Spiel können auch Märchen
als Ausgangssituation für ein Gruppenspiel verwendet werden.
Märchenfiguren bieten interessante Identifikationsmöglichkeiten,
wie schon in den Ausführungen zum Rollentausch beschrieben.
Hierbei muss die jeweils entwicklungspsychologisch bedingte Situation
und Einstellung der Jugendlichen berücksichtigt werden: In
Gruppen mit Teilnehmern, die sich zu Zeit stark über die
Abgrenzung zum Kindsein definieren, besteht oft keine Bereitschaft,
sich auf ein "Märchenspiel" einzulassen. In der
mehr gruppenzentrierten Vorgehensweise bietet sich als Alternative
zum ausführlichen Protagonistenspiel auch die Möglichkeit,
mehrere kurze protagonistenzentrierte Szenen oder Vignetten nacheinander
zu spielen, wobei die Reihenfolge jeweils durch eine soziometrische
Wahl bestimmt wird. Durch die sich wiederholende soziometrische
Wahl werden jeweils alle Teilnehmer erneut in den Entscheidungsprozess
einbezogen, und in den verschiedenen Spielen erhalten mehrere
Gruppenmitgliedern die Gelegenheit, für einige Zeit mit ihrem
Themen im Zentrum des Gruppengeschehens zu stehen. Nach jedem
Spiel findet ein Sharing statt, um die Verbindung zwischen Gruppe
und Protagonist wieder herzustellen. Auch außerhalb von
ausgesprochenen Spielhandlungen können in der Gruppenarbeit
mit Jugendlichen die psychodramatischen Handlungselemente in einer
Vielfalt von Aktionsformen zur Anwendung kommen und ihre Wirksamkeit
in der Gruppe entfalten. Beispielhaft sei hier der Bau von Skulpturen,
kurze Rollentausch-Sequenzen, der Aufbau von bewegten Bildern,
Begegnungen in imaginären Räumen genannt.
4.2. Verlauf und Phasenfolge der Gruppensitzungen
In den bisherigen Ausführungen wurde schon auf Bedeutung
und Gestaltung der einzelnen Phasen im Verlauf der psychodramatischen
Gruppensitzungen eingegangen. Hier soll die Phasenfolge noch einmal
kurz systematisch dargestellt werden. Grundsätzlich gestaltet
sich jede Psychodrama Einheit in drei Phasen. "Die klassische
Psychodramasitzung weist im allgemeinen drei Phasen auf: Das "Anwärmen"
oder die Einstimmung, die darin besteht, dass sich die Mitglieder
der Gruppe wechselseitig auf ihre Interessen einstellen und sich
einem bestimmten Problem oder einer Reihe von Problemen zuwenden.
Das Herzstück der Sitzung ist die Spielphase, in der die
verschiedenen Schlüsselszenen im Rollenspiel dargestellt
und die verschieden Techniken angewandt werden, die nötig
sind, um das Problem hervortreten zu lassen und seiner Lösung
näherzukommen. Die letzte Phase ist schließlich die
Nachbesprechung, in der die Bedeutung der Sitzung vom Protagonisten
und von der Gruppe eingehend untersucht wird. In dieser Phase
wird von der Gruppe zunächst nicht eine Diagnose oder Analyse,
sondern ein Mitfühlen mit dem Protagonisten der Sitzung erwartet...."
(Yablonski 1978, S. 92) Petzold ergänzt in seinem Tetradischen
Psychodrama diesen dreiphasigen Aufbau um eine vierte verhaltensmodifizierende
Phase der Neuorientierung, in der es um Veränderung und Erproben
neuer Verhaltensweisen geht. (vgl. Petzold 1993, S. 82 ff.) Das
Humanistischen Psychodrama baut sich wie bei Yablonski beschrieben
grundsätzlich in 3 Phasen auf. Ausgehend vom Humanistischen
Menschenbild wird hier in jeder Phase der Gruppensitzung dem einzelnen
Gruppenmitglied ein hohes Maß an Eigenverantwortlichkeit
zugestanden und auf analytische, interpretierende Interventionen
verzichtet:
Die 1. Phase, die "Erwärmung" besteht darin, durch
geeignete Methoden - in der Arbeit mit Kindern/Jugendlichen sind
dies oft kreative Methoden - Angst abzubauen, eine von Offenheit
geprägte Atmosphäre zu schaffen und jedem Teilnehmer
zu verhelfen, sein Thema zu finden. Durch die Verknüpfung
der Interessen der Gruppenmitglieder untereinander stellen sich
die Teilnehmer aufeinander ein und eine gemeinsame Ausdruckslage
der Gruppe mit Interesse an einem oder auch mehreren Gruppenthemen
findet sich.
Die 2. Phase ist die Spiel- oder Aktionsphase, in der im Protagonistenspiel
das Gruppenthema unter Einsatz der psychodramatischen Handlungselemente
bearbeitet wird bzw. in anderen Aktions- und Spielformen, die
Themen der Teilnehmer mit Hilfe von Rollentausch und Doppel ihren
Ausdruck finden und neue Erfahrungen und Entfaltungsmöglichkeiten
entstehen.
Die 3. Phase, das Sharing schließt sich an die Spielhandlung an. Es hat die Funktion, den Protagonisten, der stellvertretend für die Gruppe gespielt hat, erneut in die Gruppe zu integrieren. Er wird mit seine neuen Erlebnissen in die Gruppe zurückgeholt, indem die Gruppenmitglieder ihm ihre Anteilnahme ausdrücken, ähnliche Erlebnisse erzählen und Mitgefühl äußern. Hilfs-Ichs und Doppel haben die Möglichkeit, ihre Erfahrungen während des Spiels mitzuteilen, zu erzählen, wie sie sich selbst in der von ihnen eingenommenen Rolle gefühlt haben. Im Gegensatz zum klassischen Psychodrama geht es nicht um Diagnose und Analyse. Das Psychodramaspiel wirkt durch sich selbst und die Reflektion der Teilnehmer ist bestimmt durch die Äußerung ihrer eigenen Erfahrungen und Gefühle. Der Leiter begleitet den Prozess einfühlend und gegebenenfalls korrigierend, falls die Teilnehmer wertende oder verletzende Rückmeldungen geben. Nach einer gemeinsam gestalteten Spielszene haben alle Gruppenmitglieder im Sharing die Möglichkeit, ihre Erfahrungen, die sie mit der übernommenen Rolle gemacht haben, mitzuteilen und gegenseitig Verständnis und Anteilnahme zu zeigen. Auch hier sollen die Äußerungen nicht wertend und interpretierend sein.
5. Psychodramatische Gruppenarbeitarbeit mit lernbehinderten Schülern
Beschreibung und Kommentierung einiger psychodramatischer Sequenzen
Im Anschluss an die grundlegenden Betrachtungen zum Psychodrama
mit Jugendlichen möchte ich beispielhaft einige Sequenzen
der psychodramatischen Arbeit mit Schülern an der Förderschule
Rheydt beschreiben. In dieser Schule werden lernbeeinträchtigte,
sprachbehinderte und sozial-emotional benachteiligte Schüler
unterrichtet, so dass Kinder und Jugendliche mit sehr unterschiedlichen
Beeinträchtigungen zusammenkommen.
Die Gruppe
Die Psychodramagruppe trifft sich einmal wöchentlich während
der Unterrichtszeit, sie setzt sich nach Absprache mit den Lehrern
aus Schülern verschiedener Lerngruppen im Alter zwischen
12 und 15 Jahren zusammen. Durch Ausscheiden einzelner Gruppenmitglieder
und dem Zugang von neuen Teilnehmern änderte sich die Zusammensetzung
der Gruppe einige Male und es ergaben sich im Laufe der Zeit unterschiedliche
Konstellationen.
Bernhard Damm legt in seinem Beitrag über die Anwendbarkeit psychodramatischen Arbeitens in schulischen Gruppen Wert auf eine deutliche Unterscheidung zwischen schulischen Gruppen und freien Psychodramagruppen, die sich "in der Regel als Selbsterfahrungsgruppen oder auch therapeutische Gruppen" verstehen. Im Gegensatz dazu bestehe das Ziel schulischer, didaktischer Gruppen - Schulklassen oder Arbeitsgemeinschaften - stets im Erreichen eines äußeren Bildungsauftrages. "Zu berücksichtigen ist auf jeden Fall die Tatsache, dass schulische Gruppen nicht auf siech selbst bezogene Gruppen sind, die sich selbst zum Gegenstand machen, sondern Gruppen die letztendlich durch staatlich verordneten Zwang zustande kommen." (Damm 1995, S. 28)
Die Psychodramagruppe, die ich hier beschreibe, ist bezogen auf
diese Unterscheidung Damms nicht eindeutig dem einen oder anderen
Bereich zuzuordnen. Sie findet zwar während der Unterrichtszeit
in der Schule statt, ist somit de facto und auch für das
Empfinden der Schüler eine schulische Veranstaltung, hat
jedoch nicht die Vermittlung von Lerninhalten zum Ziel. Sie wird
nicht von Lehrern, sondern von einer außenstehenden pädagogischen
Fachkraft geleitet und ist somit deutlich vom Schulunterricht
abgegrenzt. Die Gruppe versteht sich als Selbsterfahrungsgruppe,
unabhängig von schulischen Bildungsaufträgen hat sie
die Persönlichkeitsentwicklung der Teilnehmer zum Ziel. Grundsätzlich
ist für die Schüler die Teilnahme an der Gruppe freiwillig,
die Lehrer sind jedoch an der Entscheidung mitbeteiligt, da sie
einzelnen Schülern eine Teilnahme anraten. Die Tatsache,
dass die Schüler sich untereinander kennen und im normalen
Schulalltag zusammenleben, bewirkt einerseits eine gewisse Vertrautheit,
erzeugt andererseits Vorbehalte und Hemmungen untereinander. Es
fällt schwerer, ungewohntes Verhalten - wie es im Psychodrama
stattfindet - zuzulassen, aus Angst vor Blamage gegenüber
den Gleichaltrigen, denen die Teilnehmer im Schulalltag wieder
begegnen. Stoßen neue Mitglieder zu der Gruppe, so muss
jeweils wieder eine behutsame Erwärmung stattfinden. Die
folgenden Beschreibungen von Gruppensitzungen basieren auf Gedächtnisprotokollen,
die ich jeweils unmittelbar nach den Treffen angefertigt habe.
Die Namen der Teilnehmer sind geändert.
Beispiel 1: Protagonistenspiel "Ärger mit den
Eltern"
Die Gruppe traf sich bis zum Zeitpunkt der hier geschilderten Sitzung seit zwei Monaten wöchentlich für jeweils zwei Schulstunden, fünf Schüler (2 Jungen/ 3 Mädchen) nahmen regelmäßig an den Treffen teil. Unter den Teilnehmern der Gruppe war bereits Vertrauen, Offenheit und gegenseitige Akzeptanz gewachsen. Bisher war überwiegend gruppenzentriert gearbeitet worden.
I. Erwärmung
Zum Ankommen in der Gruppe erzählt jedes Gruppenmitglied
zu Beginn etwas über seine momentane Befindlichkeit und aktuelle
Erlebnisse. Diese Form der Eröffnung ist ritualisiert und
findet zu Beginn jedes Gruppentreffens statt. Im Anschluss daran
wird vor der thematischen Erwärmung gegebenenfalls ein gemeinsames
Gruppenspiel angeboten als Hilfe für die Teilnehmer, einander
intensiv wahrzunehmen und sich aufeinander einzustimmen. Die Gruppe
in dieser Konstellation spielt gerne und die Form des lockeren,
gemeinsamen Tuns trägt zur gegenseitigen Öffnung und
zur Erhöhung der Konzentration bei. An diesem Morgen schlägt
die Leiterin nach der Eröffnungsrunde ein Spiel mit soziometrischen
Charakter vor: Auf eine bestimmte Art und Weise wünschen
sich die Teilnehmer im Stuhlkreis gegenseitig herbei. Dadurch
entstehen schon erste Verknüpfungen untereinander, die Achtsamkeit
füreinander nimmt zu.
Zur thematischen Erwärmung wird dann in der Gruppe eine gemeinsame
Geschichte erzählt: Die Teilnehmer sitzen im Kreis, die Leiterin
beginnt zu erzählen. "Es ist Nachmittag, ich bin zu
Hause und..." "...draußen regnet es, mir ist langweilig",
fährt Caroline fort. Dann wird die Geschichte reihum von
den Teilnehmern weitererzählt, es entwickelt sich folgende
Thematik: Ich habe keine Lust zuhause zu bleiben, da ist nichts
los. Sobald der Regen aufgehört hat, gehe ich hinaus zum
Ball spielen. Draußen ist alles matschig und nass. Ich komme
mit dreckiger Hose nach Hause zurück und es gibt Ärger
mit Mutter und Vater.
Durch das gemeinsame Erzählen entwickelt sich
ein kreativer Prozess, an dem sich alle beteiligen, ohne dass
jeder zu viel von sich selbst preisgeben muss; es entsteht eine
Verknüpfung der Beiträge untereinander, und eine gemeinsame
Ausdruckslage in der Gruppe beginnt zu wachsen.
Nach dieser gemeinsamen Aktion gibt die Leiterin folgenden Auftrag:
"Sucht euch einen Partner aus, mit dem ihr über eure
Erfahrungen sprechen wollt. Tauscht euch in den Kleingruppen darüber
aus, welche Art von Erfahrung ihr in ähnlichen Situationen
gemacht habt." Es bildet sich eine 2er Gruppe mit den beiden
Jungen und eine 3er Gruppe mit den Mädchen.
Die Aufteilung in 2 kleine Gruppen bewirkt eine erneute
Vernetzung. In der intimeren Atmosphäre gelingt es den Schülern
leichter über ihre persönlichen Erfahrungen und Gefühle
zu sprechen. Allerdings kann dieser Arbeitsschritt nicht zulange
dauern, nach relativ kurzer Zeit sind die Partner mit dem Austausch
fertig und das Interesse lässt nach. Die Trennung von Mädchen
und Jungen in den Untergruppen ist durchaus typisch. Werden keine
anderen Vorgaben gemacht, bilden sich die Kleingruppen fast immer
geschlechtsspezifisch. Die erneute Verknüpfung aller Teilnehmer
im Plenum ist deshalb besonders wichtig.
In der Gesamtgruppe erzählt anschließend jeder die wichtigsten Ergebnisse aus den Gesprächen in den Kleingruppen. In einer zweiten Runde soll jeder noch einmal sagen, welches Erlebnis ihm jetzt im Moment am wichtigsten und nächsten ist: Peter und Alexander berichten jeweils von einer Situation, in der sie schmutzig nach Hause kamen und massiven Ärger mit den Eltern bekamen. Caroline und Cena erzählen von einer Begebenheit, in der die Eltern bzw. die Mutter verständnisvoll reagiert haben. Sharna fällt kein Erlebnis ein. Die Gruppenmitglieder werden jetzt aufgefordert, zu demjenigen zu gehen, dessen Erlebnis sie besonders angesprochen hat und diesem die Hand auf die Schulter zu legen. Peter bekommt drei Wahlen und ist somit zum Protagonisten gewählt. Er ist zunächst überrascht und verunsichert, zeigt sich jedoch nach einigen motivierenden Interventionen der Gruppenmitglieder und der Leiterin bereit, seine Szene zu spielen.
Mit der vollzogenen soziometrischen Wahl wird die Erwärmungsphase
abgeschlossen und zur Spielphase übergeleitet. Die emotionale
Betroffenheit der Gruppenmitglieder und damit die Bereitschaft
sich am Spiel zu beteiligen ist zu diesem Zeitpunkt groß.
II. Spielphase
Protagonist und Leiterin begeben sich auf die Bühne. Die
Leiterin lässt den Protagonisten noch einmal die Situation
schildern und befragt ihn nach seinen Gefühlen. Peter erzählt,
dass er vom Fußballspielen zurückkommt, dass seine
Kleidung dreckig und vermatscht ist. Er erwartet ein Donnerwetter
und beschreibt, dass er Angst hat und sich verlassen fühlt.
Jetzt richtet Peter mit Hilfe der Leiterin die Szene ein: Er befindet
sich im Flur der elterlichen Wohnung, die Tür zu seinem Zimmer
ist geöffnet, die Mutter kommt aus einer anderen Tür
auf ihn zu. Die Leiterin fordert Peter auf, in die Runde zu schauen
und ein Gruppenmitglied auszuwählen, welches für ihn
die Mutter spielen soll. Er wählt Caroline, diese kommt auf
die Bühne. Peter sagt: "Mein kleiner Bruder ist auch
dabei, er sitzt da vorne in der Ecke und guckt sich alles an,
und mein Vater; der ist aber noch woanders, der kommt erst später
zu mir." Die Leiterin fragt Peter, wer den kleinen Bruder
und wer den Vater spielen soll. Er wählt Sharna als Vater
und Alexander als kleinen Bruder. Peter erklärt, dass Alexander
als Bruder auf dem Boden im Flur (er zeigt ihm den Platz) sitzen
soll und sonst gar nichts sagt. Der Vater wird erst einmal aus
der Szene herausgeschickt. Die Leiterin fordert Peter auf, im
Rollentausch mit seiner Mutter nun vorzuspielen, wie diese sich
verhält. Peter (als Mutter): "Du bist ein unmögliches
Kind, musst du dich schon wieder dreckig machen! Warte nur, ich
hole den Vater." Daraufhin übernimmt Caroline als Hilfs-Ich
die Rolle der Mutter.
Peter gibt jeweils im Rollentausch die Rektionen
seiner Hilfs-Ichs deutlich vor. Den anderen Gruppenmitgliedern
fällt es zum Teil noch schwer, die Rollen wie vorgegeben
zu übernehmen, teilweise lachen sie verlegen. Sie werden
von der Leiterin ermutigt, sich nicht verunsichern zu lassen und
die Rolle weiter zu spielen. Nur eine Teilnehmerin ist nicht als
Hilfs-Ich direkt am Spiel beteiligt, sie schaut aufmerksam zu,
traut sich jedoch nicht zu doppeln.
Caroline (als Mutter) wiederholt jetzt den Satz, den der Protagonist
der Mutter zugeschrieben hat. Peter ist sprachlos, er gibt keine
Antwort, sein Kopf ist gesenkt, er sieht auf den Boden. Doppel
(Leiterin) stellt sich neben ihn: "Das Schimpfen der Mutter
macht mich ganz hilflos, ich weiß nichts mehr zu sagen."
Peter: "Ja, reden hat ja keinen Zweck. Die schimpft sowieso.
Ich gehe jetzt in mein Zimmer, am liebsten will ich allein sein,
nichts mehr hören. Aber ich weiß, dass jetzt mein Vater
kommt und nochmal mit mir schimpft. Mutter hat ihn ja gerufen.
"Die Leiterin winkt Scharna als Vater heran. Sie fordert
den Protagonisten auf, mit dem Vater die Rolle zu tauschen. Peter
(als Vater): "Du Drecksferkel, kannst du denn nicht aufpassen!
Immer musst du alles kaputt machen. Heute brauchst du nicht mehr
aus deinem Zimmer herauskommen!" Der Rollentausch wird rückgängig
gemacht und Sharna in der Rolle des Vaters wiederholt den Satz.
Sie kann den aggressiven Tonfall nicht nachvollziehen,
es ist ihr zuerst peinlich. Auf Aufforderung hin, versucht sie
es noch einmal, diesmal etwas kräftiger.
Der Protagonist steht mit dem Rücken zur Wand, hält
wieder den Kopf gesenkt und schweigt. Doppel :"Die drängen
mich so in die Enge, ich kann nichts dagegen tun. " Peter:
"Ja, ich bin sowieso hilflos, das Donnerwetter und das Schimpfen
kommt immer, ich muss es über mich ergehen lassen. Am liebsten
will ich mal mein kleiner Bruder sein, der bekommt nie so viel
Schimpfe ab. Ich will mal wie der da sitzen und mir alles anschauen."
Leiterin: "Dann lass es uns ausprobieren." Sie fordert
den Protagonisten auf, den Platz seines Bruders einzunehmen. Alexander
nimmt jetzt die Rolle von Peter ein und wird vom Vater beschimpft.
Peter entspannt sich, hebt den Kopf, verfolgt die Szene aufmerksam.
Leiterin fragt ihn: "Wie geht es dir jetzt? Wie ist es für
dich, wenn du die beiden siehst?" Peter: "Es geht mir
gut, wenn ich hier sitzen und zuschauen kann. Aber, warum wehrt
der sich denn nicht? Und erklärt dem Vater, wie alles passiert
ist?"
Durch den Rollentausch mit seinem Bruder und die Wiederholung der Szene mit einem anderen Teilnehmer in seiner Rolle hat Peter - wie beim Spiegeln- Gelegenheit, sein Verhalten von außen zu betrachten. Das führt bei ihm einerseits zur emotionalen Entlastung, er ist einmal nicht derjenige, der beschimpft wird. Darüber hinaus entdeckt er für sich selbst Handlungsalternativen:
Ich könnte mich wehren, ich könnte versuchen,
dem Vater alles zu erklären.
An dieser Stelle beendet die Leiterin das Spiel, die Teilnehmer
werden aufgefordert, aus ihrer Hilfs-Ich Rolle heraus zu kommen
und sich im Stuhlkreis zu treffen.
Für eine weitere Vertiefung reicht die Konzentration
der Gruppenmitglieder nicht aus, die Aufmerksamkeit lässt
deutlich nach. Im anschließenden Sharing wird Peter als
Protagonist wieder in die Gruppe integriert.
III. Sharing
Die Teilnehmer äußern ihr Mitgefühl für den
Protagonisten und seine Erlebnisse. Einige erzählen spontan
von ähnlichen Erfahrungen. Sie berichten, dass sie dieses
Gefühl der Verlassenheit und Angst auch kennen, wenn die
Eltern schimpfen. Dem Protagonisten wird viel Empathie entgegengebracht.
Alexander erzählt, dass es ihm zu Hause mit seinem Bruder
ähnlich ergehe, dass dieser immer vorgezogen würde.
Im Anschluss daran berichten die Mitspieler mit großer emotionaler
Beteiligung, wie sie sich in ihren Rollen gefühlt haben;
sie sind vom Erlebnis des Rollentausches noch sehr beeindruckt,
es war für sie eine völlig neue Erfahrung, die Rolle
von Vater oder Mutter zu übernehmen.
Beispiel 2: Gemeinsame Spielszene im Märchenland
Die Gruppenzusammensetzung ist noch dieselbe wie bei der zuvor geschilderten Sitzung. Nach einer ausführlichen Eröffnungsrunde - die Teilnehmer haben an diesem Morgen viel zu erzählen - lädt die Leiterin die Gruppenmitglieder in der Erwärmung zu einer Phantasiereise ins Märchenland ein.
Die Teilnehmer in dieser Zusammensetzung haben gegen
den Umgang mit Märchen keine Vorbehalte. Einigen der Jugendlichen
jedoch fällt es zunächst schwer, die Augen geschlossen
zu halten, weil es ungewohnt für sie ist und sie Angst haben,
sich vor den anderen zu blamieren. Nachdem sie sich vergewissert
haben, dass alle Teilnehmer mitmachen werden, gelingt es schließlich,
genug Vertrauen für diese neue Erfahrung zu entwickeln.
In der Phantasie führt die Leiterin die Gruppenmitglieder
durch einen großen weiten Wald zu einem Märchenschloss.
Sie lässt sie durch die alte knarrende Holztür eintreten
und in ein freundliches Zimmer gelangen, in dem auf dem Tisch
ein dickes, reich bebildertes Märchenbuch liegt. Die Teilnehmer
werden eingeladen, in diesem Buch zu blättern und bei der
Geschichte zu verweilen, die sie am meisten anspricht. Die Leiterin
lässt sie diese Geschichte genauer anschauen und eine Gestalt
aus dem Märchen auswählen, in deren Haut sie gerne schlüpfen
möchten. Sie werden jetzt eingeladen, sich selbst in diese
Märchenfigur zu verwandeln und sich in dem großen Spiegel
an der Wand zu betrachten. Dann werden sie in dieser Rolle wieder
zurückgeführt, aus dem Schloss heraus, durch den Wald
und zurück in den Schule. Hier endet die Phantasiereise.
Nachdem alle Gruppenmitglieder die Augen geöffnet haben und
wieder im Gruppenraum angekommen sind, erzählt jeder, welche
Geschichte er angeschaut hat und in welche Rolle er geschlüpft
ist:
Peter wurde zum Pinochio , Alexander zum Zwerg, Sharna ist "Königin
im Schlaraffenland", Caroline das "Dornröschen,
dem man die Haare abschneidet" und Cena wurde zur Schäferin.
Nacheinander kommt jetzt jeder Teilnehmer auf die Bühne und
stellt sich selbst in seiner gewählten Rolle vor. Die Reihenfolge
wird durch Kettenwahl bestimmt, das heißt, derjenige, der
mit seiner Vorstellung fertig ist, wählt den Teilnehmer,
der als nächstes auf die Bühne kommen soll. Die Gruppenmitglieder
werden aufgefordert, den jeweiligen Protagonisten zu doppeln.
Im Vorstellen der eigenen Rolle fühlt sich jeder
intensiver in seine Figur ein und erfährt deren Bedeutungsinhalt
für sich selbst. Das Doppel begleitet den jeweiligen Protagonisten
dabei, es gibt ihm das Gefühl, auf der Bühne nicht allein
zu sein. Das mindert besonders bei den gehemmten, im Rollentausch
noch ungeübten Jugendlichen die Angst davor sich darzustellen.
Es unterstützt ihn darin, seine inneren Vorgänge nach
außen zu gestalten, so dass Gefühle und Denken für
die Gruppe nachvollziehbar werden, und eine erste Begegnung der
Teilnehmer untereinander in ihren Rollen stattfinden kann. Beim
Doppeln verhalten sich die Teilnehmer noch sehr zaghaft, nur ganz
selten traut sich einer, auf die Bühne zu kommen und sich
neben den Protagonisten zu stellen. Deshalb muss die Leiterin
überwiegend die Aufgabe des Doppelns übernehmen. Die
Kettenwahl bewirkt, dass eine Vernetzung innerhalb der Gruppe
stattfindet. Denn jeder ist aufgefordert, die anderen Gruppenmitglieder
bewusst wahrzunehmen und zu entscheiden, für wessen Rolle
er sich im Moment interessiert.
Im Anschluss an die Vorstellungsrunde der Teilnehmer wird durch
eine soziometrische Wahl zur Spielphase übergeleitet: Die
Leiterin bittet die Gruppenmitglieder aufzustehen und demjenigen
die Hand auf die Schulter zu legen, dessen Rolle und die damit
verbundenen Gefühle ihn am meisten interessiert. Auf den
Zwerg Alexander fallen die meisten Wahlen. Alexander als Zwerg
wird damit zur zentralen Figur in einem gemeinsam gestalteten
Rollenspiel, dessen Ausgangslage er mit seinem Thema vorgibt.
Die Leiterin tritt jetzt zusammen mit ihm auf die Bühne und
befragt ihn nach seinem momentanen Befinden als Zwerg. Mit ihrer
Hilfe entwickelt er ein Szenenbild, in dem diese Gefühle
Ausdruck finden.
Zwerg Alexander beschreibt, dass sein vorherrschendes Gefühl
Angst ist: Er kommt mit den anderen Zwergen von der Arbeit zurück
und entdeckt aus der Ferne, dass sich im Zwergenhaus etwas verändert
hat. Schneewittchen ist dort angekommen und schreit, als sie aus
dem Schlaf erwacht, schrecklich laut. Das erschreckt die Zwerge
und sie trauen sich nicht zurück zu ihrem Haus zu gehen.
Die Leiterin wendet sich an die Gruppe: " Ich lade euch ein,
diese Szene gemeinsam zu spielen und auszuprobieren, wie sie sich
weiter entwickelt. Jeder von euch sucht sich jetzt die Rolle aus,
die er im Spiel mit unserem Zwerg Alexander übernehmen möchte."
Caroline entscheidet sich spontan, das Schneewittchen zu spielen,
die anderen Teilnehmer übernehmen die Rollen der verschiedenen
Zwerge, die Alexander begleiten.
Die Vorgehensweise weicht vom üblichen Protagonistenspiel
ab. Alexander steht mit seinem Thema im Mittelpunkt und bestimmt
die Szene, aus dieser Ausgangssituation entwickelt sich dann jedoch
im gemeinsamen Spiel aller Teilnehmer die Szene weiter. Jeder
sucht sich seine Rolle selbst aus und gestaltet sie ohne Vorgaben
des Protagonisten. Alle Teilnehmer sind dadurch aktiv in das Spielgeschehen
einbezogen, das Geschehen hat insgesamt einen mehr spielerischen
Charakter. Im Hier und Jetzt entwickelt sich die Geschichte neu.
In der Identifikation mit den Märchenfiguren fällt es
den Gruppenmitgliedern leichter, Gefühle auszudrücken.
Die Szene wird eingerichtet: Schneewittchen sitzt im Zwergenhaus,
die Zwerge hocken in einiger Entfernung auf dem Boden, versteckt
hinter einem Baum. Die Leiterin befragt jetzt die einzelnen Teilnehmer
jeweils kurz zu ihrer Rolle, damit sie sich intensiv einfühlen
können. Das Spiel beginnt:
Schneewittchen schreit. Alexander zuckt zusammen: "Was ist
das für ein schrecklicher Schrei, ich gehe nicht zurück
zu unserem Haus, das ist mir viel zu gefährlich!" Die
übrigen Zwerge schauen sich ratlos an. Einer macht den Vorschlag,
sich gemeinsam anzupirschen und nachzuschauen, was da los ist.
Zwerg Alexander ist sehr zögerlich, lässt sich schließlich
bewegen, mit den anderen langsam näher zu schleichen. Zwischendurch
schreit Schneewittchen mehrmals auf, Alexander möchte immer
wieder zurückweichen. Die anderen Zwerge schaffen es durch
aufmunternde Worte, ihn weiter mitzunehmen in Richtung Zwergenhaus.
Als sie schließlich vor dem Haus stehen, entdecken sie,
dass in ihrem Haus ein Mädchen sitzt, das nicht sehr gefährlich
aussieht. Sie überlegen, was zu tun ist, und beschließen,
das Mädchen anzusprechen. Alexander ist immer noch sehr zögerlich
und hält sich im Hintergrund. Einer der Zwerge beginnt Fragen
zu stellen, Schneewittchen erzählt seine Geschichte, wie
es hergekommen ist. Nach einiger Zeit traut sich auch Alexander,
dem Mädchen Fragen zu stellen. Er wirkt jetzt sehr erleichtert.
An dieser Stelle wird das Spiel beendet. Die Teilnehmer werden
aufgefordert, wieder aus ihrem Rollentausch herauszukommen und
sich im Stuhlkreis zu treffen.
Die Leiterin hat das Spiel durch Fragen und einige
Doppel-Interventionen begleitet. Während des Spiels entwickelten
die Teilnehmer in der Rolle der Zwerge ein hohes Maß an
Empathie und begleiteten Alexander einfühlsam.
In der anschließenden Sharingrunde erzählen zunächst
alle Teilnehmer, wie sie sich während des Spiels in ihrer
Rolle gefühlt haben. Caroline hat ihre Rolle als Schneewittchen
von Beginn an genossen. Peter, Sharna und Cena, die Zwerge gespielt
haben, erzählen, dass es zunächst schwierig war sich
in die Rolle einzufühlen, dass sie jedoch mit der Zeit immer
mehr die Angst von Alexander gespürt haben und ihm helfen
wollten. Alexander beschreibt seine Erfahrung im Spiel so: "Wenn
ich mir das von Nahem angucke, wo ich Angst vor habe, dann merke
ich, dass es gar nicht so schlimm ist. Ich kann mich trauen hinzugehen,
wenn ich nicht alleine bin." Die Gruppenmitglieder tauschen
sich dann darüber aus, welche Angstsituationen sie kennen
und was sie mit ihrer Angst schon erlebt haben.
Beispiel 3: Bearbeitung eines gruppeninternen Konflikts
mittels Rollentausch
Die Zusammensetzung der Gruppe hat sich verändert: 2 Mädchen
sind ausgeschieden, dafür nimmt seit einigen Wochen Rolf
an den Gruppentreffen teil, er ist inzwischen gut integriert.
Am Morgen der hier beschriebenen Sitzung treffen 2 Teilnehmerinnen
(Katrin und Jessica) neu hinzu. Das Zusammensein in dieser Gruppe
ist für die Beteiligten neu, sie kennen sich jedoch aus dem
normalen Schulalltag und bringen ihre gegenseitigen Beziehungserfahrungen
mit. In der Eröffnungsrunde berichten die schon erfahrenen
Gruppenmitglieder und die Leiterin den Neuen etwas über das
Geschehen in der Gruppe. Dann ist jeder eingeladen, über
seine Befindlichkeit und seine Erlebnisse am heutigen Morgen zu
erzählen.
Die Teilnehmer folgen dieser Einladung insgesamt
zaghaft, die Atmosphäre ist noch von Unsicherheit geprägt.
Es fallen zwischendurch immer wieder aggressive Bemerkungen auf
bestimmte Schüler hin.
In der weiterführenden Erwärmung werden die Gruppenmitglieder
jetzt aufgefordert, Assoziationen zum Erfahrungsbereich Schule
zu finden und diese gestalterisch umzusetzen: "Ich lade euch
ein, einmal nachzuspüren, wie Schule für euch ist. Was
fällt euch ein, wenn ihr an eure Erfahrungen mit der Schule
denkt. Womit könnt ihr sie vergleichen? Versucht ein Bild
hierfür zu finden: Schule ist für mich wie..."
Die Leiterin bittet die Teilnehmer um den Tisch Platz zu nehmen
und lädt sie ein, dass jeder seine Assoziation zu Schule
auf die dort ausgerollte Tapetenrolle malt.
Die Methode des gemeinsamen Malens auf einem großen
Papier wurde gewählt, um der Gruppe während dieser gestalterischen
Phase des Erwärmungsprozesses die Möglichkeit zu geben,
miteinander Kontakt aufzunehmen und eventuell gegenseitigen Beziehungen
Ausdruck geben zu können. Der Lebensbereich Schule betrifft
alle Gruppenmitglieder gleichermaßen, er eignet sich deshalb
als Ausgangspunkt, auf einem gemeinsamen Erfahrungshintergrund
die eigenen Themen zu entfalten. Diese stark soziometrisch orientierte
Form des Arbeitens erscheint sinnvoll, weil schon während
der Eröffnungsrunde durch Bemerkungen und nonverbales Verhalten
deutlich wurde, dass zwischen einigen der Teilnehmer spannungsreiche
Beziehungen bestehen.
Im Verlauf des Malens entwickelt sich ein ausgeprägter gruppendynamischer Prozess.
Es wird schnell sichtbar, dass die Gruppenmitglieder sehr unterschiedlich
stark ausgeprägte Ausdehnungs- und Darstellungstendenzen
haben. Zwischen zweien der Teilnehmer entwickelt sich eine heftige
Auseinandersetzung auf dem Papier. Sie dominieren mit ihren Zeichnungen
das Gruppenbild. Nach der emotionsgeladenen Malphase bleiben zunächst
alle an ihrem Platz sitzen, die Bilder werden gemeinsam betrachtet
und erklärt:
Cena malte ein ordentliches Haus mit vielen Fenstern (ganz in
schwarz), zum Schluss noch bunte Schlangenlinien zwischen die
Fenster. Sie erklärt, dass dieses Haus die Schule darstellt,
die bunten Linien sollen ihren Wunsch nach mehr Abwechslung ausdrücken.
Katrin malte sehr raumgreifend viele Männchen mit Sexsymbolen
über eine große Fläche des Papiers. Sie bezeichnet
diese Figuren als Mistkerle und erklärt, dass sie damit ihre
Wut und ihren Ärger auf Rolf dargestellt hat.
Rolf, der an der anderen Seite des Tisches sitzt, hat sich mit
seinem Bild ebenfalls weit ausgebreitet. Er zeichnete viele, viele
Strichmännchen mit negativen Begriffen, Schimpfwörtern
und weiblichen Sexsymbolen versehen. Dabei malte er zum Ende auch
über das Bild seiner Nachbarin Jessica. Er erklärt,
dass die Figuren seine Wut auf Katrin ausdrücken.
Jessica hat kleine bunte Streifen in verschiedenen Farben gemalt
als Ausdruck dafür, dass Schule für sie unterschiedliche
Farben hat, mal mehr dunkel, mal mehr hell. Sie erklärt,
dass ihr Bild nicht so wichtig sei, sie interessiere sich für
den Streit zwischen Rolf und Katrin.
Alexander malte zuerst einen Rahmen und dahinein streitende Menschen.
Er erzählt dazu, dass er den Rahmen gemalt habe, um sicher
zu gehen, dass kein anderer auf sein Terrain kommen kann. Die
Menschen innerhalb der Abgrenzung sollen den Streit und die Schlägerei
zwischen Rolf und Katrin darstellen.
Die Spannungen zwischen Rolf und Katrin stehen deutlich
im Mittelpunkt des Gruppengeschehens. In den Äußerungen
zu ihren Bildern haben auch Alexander und Jessica signalisiert,
dass das Thema "Streit" zwischen den beiden Konfliktpartnern
für sie von großem Interesse ist. Es ist offensichtlich
geworden, dass der Konflikt zwischen den beiden zur Zeit das Geschehen
in der Gruppe bestimmt und somit zum Gruppenthema geworden ist.
Ohne eine Bearbeitung dieses Konfliktes wird eine Weiterarbeit
in der Gruppe nicht möglich sein, weil diese Störung
alle anderen Themen blockieren würde. Auf die ritualisierte
Form der soziometrischen Wahl wird deshalb hier verzichtet.
Die Leiterin bittet die Jugendlichen nach dem Gespräch über
die Bilder wieder im Stuhlkreis Platz zu nehmen und schlägt
vor, den Streit zwischen Katrin und Rolf zum Thema der Spielhandlung
zu machen. Alle Gruppenmitglieder signalisieren ihre Zustimmung
spontan durch Kopfnicken. Damit beginnt die Spielphase:
Rolf und Katrin betreten zusammen mit der Leiterin die Bühne.
Die Leiterin fordert die beiden auf, ihre Rolle mit der jeweils
anderen Person zu tauschen: "Rolf, du bist jetzt die Katrin,
und Katrin, du bist jetzt der Rolf. Ich möchte nacheinander
jeden von euch in der getauschten Rolle befragen." Dann führt
sie zuerst mit Rolf (als Katrin) und dann mit Katrin (als Rolf)
ein längeres Interview zu deren Vorlieben, Hobbys, Befindlichkeiten
(Wie gefällt es dir in der Schule? Was tust du gerne? Worüber
ärgerst du dich? Wie geht es dir jetzt?.....) Die Befragten
antworten jeweils nicht für sich selbst, sondern im Rollentausch
mit dem Gegenüber.
Durch das Befragen in der Rolle des Konfliktpartners
werden Katrin und Rolf dahin geführt, sich in die Person
des anderen einzufühlen, seine Gefühle und Gedanken
nachzuempfinden, Situationen und Verhaltensweisen aus dessen Sicht
wahrzunehmen. Sie gewinnen so eine unbekannte Perspektive und
erleben sich selbst aus der Sicht des anderen neu. Gleichzeitig
können sie sich selbst und ihr Verhalten, während der
andere es spielt, von außen betrachten und eine neue Sichtweise
ihrer Selbst - so wie es vom anderen wahrgenommen wird - erleben.
Die beiden lassen sich nach einer kurzen Phase der Unsicherheit,
die sich in Kichern und Albern äußert, intensiv auf
den Rollentausch ein.
Zum Schluss jedes Interviews werden die beiden Spielenden - immer
noch im Rollentausch - nach ihrer Beziehung zum jeweiligen Gegenüber
befragt:
Leiterin zu Rolf (als Katrin): Katrin, wann und wo triffst du
denn den Rolf?
Rolf (als Katrin): Immer in der Pause auf dem Schulhof.
Leiterin: Was tut ihr dann zusammen?
Rolf (als Katrin): Meistens schreien wir uns an, oder treten und
hauen uns gegenseitig.
Leiterin: Was denkst du über Rolf?
Rolf (als Katrin): Rolf ist doof, ein Arschloch, er will mich
immer nur ärgern.
Das Interview mit Rolf (als Katrin) wird hier beendet und Katrin
wird jetzt ausführlich in der Rolle von Rolf befragt. Am
Ende dieses Interviews wieder die Fragen zur gegenseitigen Beziehung:
Leiterin zu Katrin (als Rolf): Rolf, wir haben vorhin erfahren,
dass ihr beide euch in der Pause auf dem Schulhof trefft. Wenn
du daran denkst, was fällt dir dazu ein?
Katrin (als Rolf): Katrin tritt und schlägt immer, sie ist
wirklich ein Mistkerl.
Diese Fragen nach der Einschätzung des anderen
im Rollentausch führen dazu, dass jeder verbalisieren kann,
wie er meint, dass er auf den anderen wirkt und sich so des Bildes
bewusst werden kann, das der/die andere von ihm/ihr hat.
Jetzt werden Katrin und Rolf (weiterhin im Rollentausch) aufgefordert,
sich auf der Bühne zu begegnen, sich zu begrüßen
und dem Gegenüber jeweils in einem Satz eine wichtige Botschaft
zu sagen. Die beiden gehen aufeinander zu, schauen sich etwas
verlegen an, Rolf (als Katrin) beginnt zu sprechen:"Rolf,
ich möchte gerne etwas mit dir zu tun haben, ich finde dich
nämlich interessant, aber du sollst mich nicht immer ärgern."
Katrin (als Rolf) antwortet:"Katrin, trete und schlage mich
doch nicht immer sofort, dann werde ich sauer, dazu habe ich keine
Lust."
Diese strukturierte Form der Begegnung soll den Spielern
helfen, sich auf die wichtigste Botschaft zu konzentrieren und
den Wunsch, der beim Gegenüber vermutet wird, pointiert zum
Ausdruck zu bringen. In den Äußerungen wird deutlich,
dass Verständnis für die Situation und die Gefühle
des anderen gewachsen ist und anstelle des Konfliktpartners ein
Wunsch spontan verbalisiert werden kann.
Die Leiterin bittet Katrin und Rolf jetzt, den Rollentausch zu
beenden, wieder sie selbst zu sein und sich zur Gruppe in den
Kreis zu setzen. Im Sharing teilen zunächst die Gruppenmitglieder,
die nicht am Spiel beteiligt waren, ihre Eindrücke mit. Sie
äußern Bewunderung für den Mut der beiden Spieler
und beschreiben ihre große emotionale Beteiligung am Geschehen
auf der Bühne. Es wird deutlich, dass der aggressive Umgang
miteinander für alle Gruppenmitglieder ein wichtiges Thema
ist, dass jeder aktiv oder passiv davon betroffen ist. Die beiden
haben stellvertretend für alle an diesem Thema gearbeitet.
Rolf und Katrin verhalten sich während des Sharings zunächst
ruhig und zuhörend, gegen Ende schimpfen sie noch einmal
aufeinander. Ihre negativen Äußerungen sind gegenüber
der Ausgangslage zu Beginn der Sitzung deutlich weniger heftig.
Schlussbemerkung
Die durch den Rollentausch erzielte Wirkung, sich in die Verhaltenserwartungen
des anderen hinein zu versetzen und im Spiel eingefahrene Verhaltensmuster
zu verlassen, führte sowohl bei den Spielern als auch bei
den übrigen Gruppenmitgliedern dazu, das Verhalten aus einer
neuen Sichtweise zu erleben. Diese Erfahrung nahm dem Konflikt
zeitweise die übermächtige Dominanz in der Gruppe und
schaffte die Basis, im weiteren Verlauf des Gruppenprozesses ein
offeneres Miteinander zu ermöglichen und in einem langsamen
Prozess Vertrauen wachsen zu lassen.
Literatur
Damm, B.: Die Methoden des psychodramatischen Arbeitens und ihre
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Zeitschrift für Humanistisches Psychodrama, 1. Jahrgang,
Verlag des PIB, Heft 1, Duisburg, 1995
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Geßmann, H.-W.: Morenos Spontaneitätsprinzipien und
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Geßmann, H.-W.: Das Humanistische Psychodrama. In: Internationale
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Geßmann, H.-W.: Aspekte von Erlebens- und Handlungswiderständen
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In: Internationale Zeitschrift für Humanistisches Psychodrama,
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Geßmann, H.-W./ Meyer, M.: Die Bedeutung von Aspekten der
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Geßmann, H.-W.: Das Szenen-Erstinterview im Humanistischen
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Quitmann, H.: Humanistische Psychologie, Göttingen, Hogrefe Verlag für Psychologie, 1996
Reimann, H. und H. (Hrsg.): Die Jugend, Soziale Probleme 8, München,
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Widlöcher, D.: Das Psychodrama bei Jugendlichen, Olten, Walter-Verlag
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